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Michael Sachs

100 Jahre Medizingeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Band I: Von der ersten Vorlesung über Geschichte der Medizin zum Dr. Senckenbergischen Institut für Geschichte der Medizin 1916-1971

Max Schmidt-Römhild Verlag, Lübeck, 2024, Broschur, 135 Seiten, 85,00 €, ISBN 978-3-7950-7133-2

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Historie der Medizingeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dabei die Entwicklung von 1916 bis 1971, von der ersten Vorlesung über Geschichte der Medizin bis zum Dr. Senckenbergischen Institut für Geschichte der Medizin.

Verfasst wurde der schmale Band, der mit Unterstützung der „Prof. Dr. Walter Artelt und Prof. Dr. Edith Heischkel-Artelt Stiftung“ (Frankfurt am Main) gedruckt wurde, von Prof. Dr. med. Michael Sachs, der seit 2021 Kommissarischer Leiter des Dr. Senckenbergischen Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der J. W. Goethe-Universität ist. Der Autor, der sich 1995 in Frankfurt als Privatdozent für das Fach Chirurgie (Fachbereich Humanmedizin der J. W. Goethe-Universität) habilitierte, ist Verfasser einer Vielzahl von Buch- und Zeitschriftenbeiträgen. Zu seinen bedeutendsten Monographien gehören die fünfbändige „Geschichte der operativen Chirurgie“ (Heidelberg 2000-2005) und das sieben Bände umfassende „Historische Ärztelexikon für Schlesien. Biographisch-bibliographisches Lexikon schlesischer Ärzte und Wundärzte (Chirurgen)“
(Pfaffenhofen 1997-2024).

In seinem Vorwort macht Michael Sachs darauf aufmerksam, dass in Abhängigkeit vom jeweiligen Zeitgeist das Fach „Geschichte der Medizin“ an den deutschen Universitäten in den vergangenen einhundert Jahren einem starken Wandel unterworfen war und ist. So wie der Name und die Struktur der 1914 gegründeten Universität in Frankfurt am Main und auch des medizinhistorischen Instituts verändert wurden, so sei auch das Studienfach „Geschichte der Medizin“ grundlegend verändert worden. Zur Bedeutung und Intention seiner Schrift hält er sodann wörtlich fest: „Der Verfasser dieser Chronik hat versucht, die wechselvolle Institutsgeschichte auf dem Hintergrund der Universitäts- und Fachgeschichte in Band I zunächst bis 1971
darzustellen“ (S. 5).

Die durch zahlreiche Schwarzweiß- und Farbabbildungen illustrierte Darstellung gliedert sich in zehn Kapitel, in denen – gestützt auf Archivalien des Dekanatsarchivs als Depositum im Archiv des Dr. Senckenbergischen Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin (SIGEM) und des Universitätsarchivs Frankfurt am Main (UAF) sowie zeitgenössische Veröffentlichungen – die Entwicklung der Medizingeschichte in Frankfurt am Main von ihren Anfängen bis Anfang der 1970er Jahre dezidiert nachgezeichnet wird.

Wie Michael Sachs in Kapitel 1 „Zur Situation der Medizingeschichte an deutschsprachigen Universitäten zur Zeit der Universitätsgründung in Frankfurt am Main 1914“ (S. 7-8) zeigt, war das Studienfach „Geschichte der Medizin“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht Prüfungsgegenstand im Medizinstudium. An den Universitäten des Deutschen Reiches habe es Anfang des 20. Jahrhunderts nur einen einzigen Lehrstuhl für Geschichte der Medizin in einem Institut gegeben, nämlich in Leipzig, wo 1906 das weltweit erste medizinhistorische Institut von der verstorbenen Frau des Wiener Medizinhistorikers Theodor Puschmann (1844-1899) gestiftet wurde.

Wie im Kapitel 2 „Die ersten Vorlesungen über Geschichte der Medizin an der Universität durch Richard Koch (1916-1926)“ (S. 9-22) dargelegt, fand die erste Vorlesung über Geschichte der Medizin an der Universität Frankfurt („unentgeltlich“) im Sommersemester 1916 durch den Internisten Dr. med. Richard Koch (1882-1949) statt. Dessen Versuch, sich 1917 für Geschichte der Medizin zu habilitieren, sollte zunächst scheitern. Erst sein zweiter Versuch 1919/20 sei erfolgreich gewesen, nachdem sich im Vorfeld Prof. Dr. med. Karl Sudhoff (1853-1938) in Leipzig als führender Medizinhistoriker Deutschlands und Inhaber des bislang einzigen Lehrstuhls beim Dekan in Frankfurt für Koch eingesetzt hatte. In Ermangelung von Räumlichkeiten im Universitätsbereich habe dieser seine Vorlesungen über die „Geschichte der Medizin“ und „Einführung in das Studium der Medizin“ in seiner Privatwohnung im Westend abgehalten. Dessen 1924 bei der „Hohen Medizinischen Fakultät“ 1924 gestellter „Antrag auf Gründung eines medizinhistorischen Instituts an der Universität Frankfurt“ sei aber nicht weiterverfolgt worden.

Aufbauend auf Kapitel 3 „Koch erhält einen ‚unbezahlten Lehrauftrag für Geschichte der Medizin‘ und die Anerkennung als ‚Seminar‘ an der Universität Frankfurt (1927)“ (S. 23-26), geht es in Kapitel 4 um „Das ‚Seminar für Geschichte der Medizin‘ (1928-1932)“ (S. 27-34). Wie der Autor zeigt, versuchte Koch – nachdem seine Bemühungen um die Besetzung eines Extraordinariates gescheitert waren – 1930 wenigstens die Umwandlung des unbezahlten in einen bezahlten Lehrauftrag zu erreichen, wobei die Gewährung eines „honorierten Lehrauftrages“ jedoch erst 1931 erfolgen sollte. Nachdem Koch im Mai 1931 schwer erkrankt war, habe er erst am 1. Januar 1933 seine Vorlesungstätigkeit wieder aufnehmen können. Seine am 25. Januar 1933, also nur wenige Tage vor der NS-Machtergreifung, dem seinerzeitigen Dekan Prof. Franz Volhard (1872-1950) gestellte Frage, ob er sein „bisheriges Seminar für Geschichte der Medizin, von jetzt ab seitdem es eigene Räume besitzt und damit arbeitsfähig ist, Institut für Geschichte der Medizin nennen darf“, sei „vorläufig zurückgestellt“ worden.

Kapitel 5 beleuchtet „Die vorläufige ‚Beurlaubung‘ (April 1933) und ‚Entlassung‘ Kochs (September 1933)“ (S. 35-40). Der aus einer jüdischen Familie stammende Koch war von dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ betroffen, welches die Nationalsozialisten am 7. April 1933 mit dem Ziel erlassenen hatten, Juden, Menschen jüdischer Herkunft und politisch unerwünschte Personen aus dem Staatsdienst zu entfernen. Das akademische Wirken von Koch in Frankfurt, dem am 2. September 1933 durch den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung aufgrund des besagten Gesetzes die Lehrbefugnis entzogen wurde, obwohl er eigentlich kein Beamter war, beruhte – wie Michael Sachs festhält – „auf einer für die damalige Zeit ungewöhnlichen Verbindung einer Trias aus ärztlicher Praxis, Analyse der theoretischen Grundlagen der Heilkunde und Medizingeschichte“ (S. 38).

Im Anschluss an Kapitel 6, in dem es um „Die Auflösung des ‚Seminars für Geschichte der Medizin‘ (1935)“ (S. 41-42) geht, thematisiert Kapitel 7 „Die Gründung eines ‚Instituts für Geschichte der Medizin‘ durch die Dr. Senckenbergische Stiftung und die Berufung Walter Artelts (1938)“ (S. 43-53). Der Autor legt dabei unter anderem die Bedeutung des Frankfurter Arztes
Dr. med. Johann Christian Senckenberg (1707-1772), dem Begründer der heute noch bestehenden Senkenbergischen Stiftung, und dessen Stiftungsbrief hinsichtlich der Gründung eines „Instituts für Geschichte der Medizin“ in Frankfurt dar, ebenso wie die Betrauung von Dr. med. et phil. Walter Artelt 1937 mit einem Lehrauftrag sowie die Umbenennung von „Institut für Geschichte der Medizin“ in „Senckenbergisches Institut für Geschichte der Medizin 1938.

Das Jahr 1939 brachte, was in Kapitel 8 „Das Institut in der Kriegs- und Nachkriegszeit (1939-1949)“ (S. 55-66) thematisiert wird, eine wichtige Aufwertung für das Fach der Medizingeschichte an den deutschen Universitäten, indem erstmals eine Vorlesung „Geschichte der Medizin“ im 2. vorklinischen Semester verpflichtend war. Die neuen Bestimmungen konnten jedoch durch den wenige Monate später beginnenden Zweiten Weltkrieg (1939-1945), so Michael Sachs, „aber kaum umgesetzt werden, da die Lehrbeauftragten bzw. Lehrstuhlinhaber für Medizingeschichte in Deutschland zum großen Teil zur Wehrmacht eingezogen wurden“ (S. 56). Aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) sei Artelt, der 1942 zum außerplanmäßigen Professor ernannt worden war, nach Kriegsende zunächst einmal aus dem Universitätsdienst entlassen worden. Von der Frankfurter Spruchkammer 1947 zunächst in die Stufe V („Entlastete“) eingruppiert, sei er nach Einspruch der Militärregierung in die Gruppe IV („Mitläufer“) eingruppiert worden, wenngleich zahlreiche Zeugen schriftliche Erklärungen abgegeben hatten, „dass Artelt sich niemals im Sinne des Nationalsozialismus betätigt oder auch nur geäußert habe“ (S. 62).

Wie in Kapitel 9 „Weitere Entwicklung des Instituts von 1950 bis zur Emeritierung Artelts 1971“ (S. 67-74) ersichtlich, gab es 1950 lediglich an den Universitäten Leipzig, Berlin, München, Bonn, Mainz, Freiburg i.Br. und in Frankfurt am Main medizinhistorische Institute für Geschichte der Medizin, an den anderen deutschen Universitäten lediglich Lehraufträge. Seit Sommersemester 1949 wieder außerplanmäßiger Professor, sei Artelt 1958 zum ordentlichen Professor ernannt worden, wodurch die Universität Frankfurt erstmals einen ordentlichen Lehrstuhl (Ordinariat) für Geschichte der Medizin hatte. Aus Protest gegen die hessische Universitätsreform 1970 habe er im Alter von 64 Jahren seine Emeritierung beantragt, die ihm im August 1971 vom damaligen Hessischen Kultusminister Ludwig von Friedeburg (1924-2010) gewährt worden sei. Über die zeitgenössische Entwicklung, auf Vorschlag der medizinischen Fakultät war Prof. Dr. Günter Mann (1924-1992) vom Hessischen Kultusminister als Nachfolger Artelts berufen worden, hält der Autor fest: „Im Falle des Frankfurter medizinhistorischen Instituts scheint sich die Umstrukturierung nicht bewährt zu haben. Aus den erhaltenen Akten ergibt sich, dass die Professoren Winkelmann und Preiser nicht mit ihrem neuen Kollegen Mann, Kümmel und Seifert harmonisierten“ (S. 72). Mehrfach habe daher 1974 der Dekan eingeschaltet werden müssen.

Das Kapitel 10 „Das Personal des Instituts 1938-1971“ (S. 75-88) bietet schließlich in chronologischer Reihenfolge einen Überblick über das wissenschaftliche Personal des Instituts einschließlich der Bibliothekarinnen und Büro-Angestellten.

Ergänzt wird die mit einem soliden Anmerkungsapparat ausgestatte Arbeit durch vier „Anlagen“: einem tabellarischen Lebenslauf und Publikationsverzeichnis von Prof. Richard Koch (1882-1949) (S. 91-104), einem tabellarischen Lebenslauf und Publikationsverzeichnis von Prof. Walter Artelt (1906-1976) (S. 105-124), einem Überblick über wertvolle alte Drucke zur Geschichte der Medizin aus der Institutsbibliothek (S. 125-132) und einem Verzeichnis der archivalischen Quellen
(S. 133) sowie einem alphabetischen Register der ehemaligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Seminars und später des Instituts für Geschichte der Medizin 1927 bis 1971 (S. 134-135).

Während von dem Medizinhistoriker Prof. Dr. med. et Dr. phil. Udo Benzenhöfer (1957-2021) eine Arbeit über die „Gründungsgeschichte der Medizinischen Fakultät in Frankfurt am Main“ (Münster 2011) bereits seit einiger Zeit vorliegt, gab es bislang keine wissenschaftliche Studie, die über die Entwicklung der Medizingeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main informierte. Dieses Desiderat besteht dank der vorliegenden Arbeit von Michael Sachs jetzt nicht mehr. Da die Veröffentlichung als „Band I“ erschienen ist, darf man schon jetzt auf weitere Arbeiten zu „100 Jahre Medizingeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main“ gespannt sein.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling

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