Jürgen Helfricht
Notschriften Verlag, Radebeul, 2024, 32 Seiten, Festeinband, 24,90 €, ISBN 978-3-948935-59-7
In Kriegsgebiete eilend, stand eine couragierte Frau unermüdlich sterbenden Soldaten bei, pflegte Verwundete egal welcher Nation und organisierte unbürokratisch Hilfe. Die Rede ist von Marie Simon (1824-1877), die bereits zu Lebzeiten als „ein Muster selbstloser Menschenliebe“ und „Ehrenbürgerin Europas“ galt. Die durchsetzungsstarke, mutige und verstandesscharfe Sorbin, die im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht, hatte schon als junge Frau sich selbst pflegerische Kenntnisse beigebracht, im Diakonissenkrankenhaus in Dresden und in der Universitätsklinik in Leipzig hospitiert, bevor sie durch ihre zweite Ehe 1853 zur Inhaberin einer Weißwarenhandlung in der Residenz- und Landeshauptstadt Dresden wurde.
Spätestens während der Schlacht von Königgrätz im Preußisch-Österreichischen Krieg im Sommer 1866, bei der sie die Schlachtfelder in Böhmen aufsuchte, erkannte die 41-Jährige ihre Mission des Helfens und Heilens. Durch die Rettung vieler Leben bekannt geworden, berief Königin Carola von Sachsen (1833-1907) sie in das erste Direktorium des im September 1867 in Dresden als Frauenverein vom Roten Kreuz gegründeten Albert-Vereins. Während ihrem Einsatz im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, in dem sie ihr hingebungsvolles Wirken perfektionierte, schrieb Marie Simon Briefe und Tagebuchblätter, die sie 1872 unter der Überschrift „Meine Erfahrungen auf dem Gebiete der Freiwilligen Krankenpflege“ im renommierten Leipziger Verlag F. A. Brockhaus veröffentlichte. Als deutsches Pendant zur englischen Reformerin Florence Nightingale (1820-1910) hochgeehrt, setzte sie sich fortan – nicht zuletzt auch durch ihr wenig später veröffentlichtes Lehrbuch „Die Krankenpflege. Theoretische und praktische Anweisungen“ (Leipzig 1876) – dafür ein, die weltliche Krankenpflege zum Frauenberuf zu machen und Arme bestmöglich zu versorgen.
Den 200. Geburtstag von Marie Simon im Jahr 2024 nahm das Sächsische Rote Kreuz (https://drksachsen.de/start/startseite.html) zum Anlass für ein Gedenkjahr, um die alsbald in Vergessenheit geratene Heldin der humanitären Hilfe posthum zu würdigen. In diesem Zusammenhang wurde ihr zu Ehren unter anderem im sächsischen Rot-Kreuz-Museum in Beierfeld
(https://www.drk-asz.com/angebote/engagement/
rotkreuzmuseum.html) eine Sonderausstellung mit dem Titel „Kriegsschwestern – Frauen im Krieg“ eröffnet, in ihrem Geburtsort Doberschau durch den Landesfrauenrat ein Denkmal eingeweiht und in Dresden die Tagung „Krankenhauspflege in Kriegs- und Friedenszeiten aus historischer Perspektive“ der Sektion Historische Pflegeforschung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V. (DGP) und des DRK-Landesverbands veranstaltet. Ferner gab Thomas Klemp ihr Buch von 1872 „Meine Erfahrungen auf dem Gebiete der Freiwilligen Krankenpflege im Deutsch-Französischen Kriege 1870-71“ neu als Band 12 der im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes e. V. (DRK) und der Stiftung Rotkreuz-Museum im Land Brandenburg von Petra Liebner, Rainer Schlösser, Volkmar Schön und Harald-Albert Swik herausgegebenen Schriftenreihe „Beiträge zur Rotkreuzgeschichte“ (vgl. die Rezension des Verfassers in: Geschichte der Gesundheitsberufe. Historisches Fachmagazin für Pflege- und Gesundheitsberufe,
13. Jg., Ausgabe 2-2024, S. 119-121) heraus.
Schließlich erschien 2024 auch die Biographie „Marie Simon. Die deutsche Nightingale aus der sorbischen Lausitz“ des Dresdner Publizisten Jürgen Helfricht. Der Autor (Jahrgang 1963), der von 1985 bis 1989 Diplom-Journalistik an der Universität Leipzig studierte und 2004 an der Palacký-Universität in Olmütz (Tschechien) mit der medizinhistorischen Arbeit „Der Pionier der Naturheilbewegung Vincenz Prießnitz 1799-1851 und die Rezeption seiner Hydrotherapie im deutschsprachigen Raum bis 1918“ (Husum 2006) promovierte, legte bereits eine Vielzahl unterschiedlichster Publikationen vor, etwa zur Ganzheits- und Schulmedizin, Astronomie-, Hochadels-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Zu seiner Heimatstadt Dresden veröffentlichte er unter anderem „Dresden und seine Kirchen“ (Leipzig 2005), „Das Königliche Dresden“ (Husum 2011), „Die Dresdner Frauenkirche“ (Husum 2014) und „Dresdens Pracht und Monarchie. Residenzschloss & Fürstenzug“ (Husum 2016). Jüngst erschien von ihm die sechste, erweiterte und aktualisierte Auflage seines Werkes „Die Wettiner – Sachsens Könige, Herzöge, Kurfürsten und Markgrafen“ (Radebeul 2024).
Seit 1993 Chefreporter für die Lokalredaktion Dresden der Bild-Zeitung, wurden Artikel von Jürgen Helfricht vom Medien-Watchblog „Bildblog“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Bildblog), in dem seit 2004 mehrere Medienjournalisten auf Fehler in der Berichterstattung, ungenügend recherchierte Artikel und Schleichwerbung hinweisen und auch auf Verstöße gegen den Pressekodex aufmerksam machen, wiederholt kritisiert. Nachdem der Medienblog „Übermedien“, ein 2016 gegründetes deutschsprachiges Onlinemagazin für Medienkritik (https://de.wikipedia.org/wiki/Übermedien), am 1. Dezember 2023 die Ergebnisse einer Recherche veröffentlicht hatte, wonach Jürgen Helfricht im Jahr 2018 an der Veröffentlichung des russlandfreundlichen, in einer deutschen und einer russischen Ausgabe (mit Vorwort von Kremlchef Wladimir Putin) des Buches „Russland lieben lernen“ als Co-Autor von Hans-Joachim Frey (Jahrgang 1965), dem ehemaligen Chef des Dresdner Opernballs, beteiligt war , wurde er von der Bild-Redaktion, die das Projekt „niemals genehmigt hätte“, am 1. Dezember 2023 mit sofortiger Wirkung freigestellt.
Zur vorliegenden Biographie über Marie Simon, die scheinbar als Arbeit im Auftrag vom Deutschen Roten Kreuz Sachsen entstanden ist, wie aus einem kurzen Hinweis des Autors bei seinen Danksagungen (S. 226) ersichtlich ist, hat Thomas Klemp, Berater Historische Kommunikation beim DRK im Landesverband Sachsen e. V., ein Vorwort beigesteuert (S. 4-5), in dem er darauf hinweist, dass Marie Simon „eine außergewöhnliche Frau“ war, deren Persönlichkeit, Lebenswerk, Wirken und humanitäre Haltung in ganz Europa anerkannt und hoch geschätzt, nach ihrem Tod aber bald vergessen wurden. Dabei liege einiges von Marie Simons Lebensweg noch im Dunkeln. Zur Bedeutung und Intention der Veröffentlichung hält er wörtlich fest: „Wir wollen, dass das Wenige, was wir von Marie Simon wissen, zusammengetragen, ergänzt und neu erzählt wird. So würdigen wir die entscheidende Gründungspersönlichkeit des Roten Kreuzes in Sachsen und empfehlen sie als Vorbild.“
Ausgehend von ihrer Geburt und aufbauend auf die Betrachtung ihrer Familie, ihrer Kindheit und ihren Schulbesuch in der Oberlausitz sowie ihrer ersten Ehe in der Residenz- und Hauptstadt Dresden, beschreibt Jürgen Helfricht die Scheidung der ersten Ehe und erneute Hochzeit mit dem Kaufmann Friedrich Anton Simon, wodurch Marie ein Aufstieg in bürgerliche Kreise gelang. Sodann stellt er ausführlich die Arbeit von Marie Simon als Geschäftsfrau vor, ebenso wie ihr aufopferungsvolles Wirken als Retterin in den Lazaretten bei Königgrätz und ihre daraufhin erfolgten Auszeichnungen und Ehrungen. Weitere Kapitel zeichnen sodann dezidiert die Arbeit von Marie Simon im Direktorium des Albertvereins, ihren Einsatz auf den Schlachtfeldern des Krieges von 1870/71, die von ihr gegründete „Deutsche Heilstätte für Invalide und Kranke“ und ihr Engagement für die Ausbildung von Krankenpflegerinnen nach.
Am Ende seiner Darstellung geht Jürgen Helfricht schließlich der interessanten Frage nach, warum die „einst berühmte Samariterin“ in Vergessenheit geriet, wobei die Gründe hierfür seines Erachtens „mannigfaltig“ sind. Mit dem Wirken auf den Schlachtfeldern, dem Bau der privaten Heilstätte und ihrer forschen, mobilisierenden, wenig auf Konventionen achtenden Persönlichkeit, sei Marie Simon vielfach auf Widerstand gestoßen und habe sich – so sei es verschiedentlich überliefert – nicht nur Anerkennung und Freunde geschaffen: „Ihre Kritiker, Neider und möglichen Feinde hielten sich allerdings bis zu ihrem Tode mit Attacken zurück. Galt Marie Simon doch durch Protektion des Königspaares, hohe internationale Auszeichnungen, die in zahlreichen Medien idealisierten Verdienste und jene sich auch beim Begräbnis nochmals offenbarende Zuneigung breiter Volksschichten als beinahe unangreifbar“ (S. 220).
Nachteilig für ihren längerfristigen Ruhm sei auch gewesen, dass einstige Förderer und Gönner verstarben. Marie Simon, die keine politischen Forderungen formuliert hatte, sei mit ihren konservativen Auffassungen und dem verteidigten traditionellen Familienbild kaum auf eine Stufe mit typischen Kämpferinnen der Frauenbewegung gestellt worden: „Zwar war sie in vielem Vorbild, der Einsatz für die Pflegerinnenausbildung in der weltlichen Krankenpflege und die legendäre Durchsetzungskraft weit und breit ohne Beispiel. Doch die Parteinahme für das Wohltätigkeitsprinzip und das Festhalten an der Geschlechterpolarität schien wohl nicht revolutionär genug“ (S. 223).
Während der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 habe Marie Simon als geborene Sorbin nicht zu Ehren kommen können, sei doch in der NS-Ideologie zur ethnischen Auslöschung der slawischen Minderheit deren Abschiebung ins Generalgouvernement geplant gewesen.
Bedauerlich sei schließlich gewesen, so der Autor, dass die humanistische Traditionen pflegende Historiographie der Rot-Kreuz-Bewegung im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem der Bundesrepublik Deutschland Marie Simon nicht wahrgenommen habe. Obwohl Zentralausschuss und Präsidium als leitende Organe des am 23. Oktober 1952 gegründeten Deutschen Roten Kreuzes der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ihren Sitz in Dresden hatten, habe eine Wiederbesinnung auf Marie Simon aus ideologischen Gründen nicht stattgefunden: „Der ‚Arbeiter- und Bauernstaat‘ kannte keine Idole, welche u. a. mit Kronprinzessinnen, Königinnen oder der Kaiserin sympathisierten und dem Direktorium eines Vereins angehörten, welchen die Sowjetische Militäradministration in Deutschland verbot“ (S. 224).
So habe es grundlegender gesellschaftlicher Umbrüche der friedlichen Revolution im Herbst 1990 sowie engagierter Bürger, Forscher und Institutionen wie dem Roten Kreuz im sächsischen Geburtsland von Marie Simon bedurft, die Vergessene zurück ins Bewusstsein zu holen. Am Ende seiner Ausführungen hält Jürgen Helfricht fest: „Es bleibt zu wünschen, dass das Interesse, die Vergangenheit zu kennen und Schlussfolgerungen aus der Geschichte zu ziehen, weiter anhält. Auch wenn es jeder Generation vorbehalten bleibt, den Betrachtungswinkel historischer Persönlichkeiten neu zu justieren, besteht nun Hoffnung, dass Marie Simon nicht wieder so lange unverdient der Vergessenheit anheimfällt“ (S. 225). Diesem Wunsch des Autors kann sich der Rezensent nur vollumfänglich anschließen.
Insgesamt betrachtet besticht die von Jürgen Helfricht vorgelegte Biographie über Marie Simon, die mit Schwarzweiß- und Farbabbildungen reich bebildert ist, durch viele neu erforschte Details. Die Darstellung, die durch ein Verzeichnis der Quellen sowie ein Personenverzeichnis ergänzt wird, gewährt – eingebunden in die allgemeinen Lebensumstände der damaligen Zeit – nicht nur tiefe Einblicke in das Leben einer faszinierenden und bedeutenden Frau der Krankenpflege, sondern auch in die Frühgeschichte des Roten Kreuzes in Sachsen und der Stadt Dresden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bleibt zu hoffen, dass durch die Veröffentlichung – mit dem treffend gewählten Untertitel „Die deutsche Nightingale aus der sorbischen Lausitz“ – die Bedeutung von Marie Simon einem größeren Publikum inner- und außerhalb der Pflege (wieder) bekannt wird und nachhaltig in Erinnerung bleibt.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling