Hubert Kolling (Hrsg.)

hpsmedia Verlag, Hungen, 2025, 328 Seiten, 34,80 €, ISBN 978-3-947665-06-8

Die Würdigung der eigenen beruflichen Leistungen durch prosopographische Lexika war für die Ärzteschaft schon seit dem 19. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit, die ihrem ausgeprägten Standesbewusstsein entsprach. Die Pflege folgte, zumindest in Deutschland, mit einiger Verspätung erst 1997. In diesem Jahr gab der Pflegepädagoge und -historiker Horst-Peter Wolff (1934-2017) den ersten Band des Biographischen Lexikons zu Pflegegeschichte heraus. Damit legte er den Grundstein für eine Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. Zu Beginn dieses Jahres erschien der 11. Band der Reihe, die seit Band vier von Hubert Kolling verantwortet wird, der aber an den Vorgängerbänden bereits mitgewirkt hat. Sie leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Herausbildung eines eigenen professionellen Berufsbewusstseins der Pflegenden, deren Leistungen nicht hinter denen der Ärzte zurückstehen. Gerade in der heutigen Zeit der intensiven Diskussionen um berufspolitische Vertretungen, wie beispielsweise in Pflegekammern, ist ein historischer Rückblick auf die Protagonisten der Berufsverbände und die Pioniere der Pflegewissenschaft unerlässlich. Nur so lassen sich Phänomene, wie der Frauenüberschuss in der Pflege, die mühsame Emanzipation von der Bevormundung durch Mediziner und die in Deutschland verspätet einsetzende Akademisierung der Pflege verstehen. Auch der aktuelle Pflegenotstand entpuppt sich im Rückblick als ein relativ altes Phänomen, dem schon Generationen von Verantwortlichen in der Pflege mit den verschiedensten Mitteln entgegenzuwirken versucht haben. Vertreterinnen und Vertreter all dieser Entwicklungen werden im Biographischen Lexikon zur Pflegegeschichte in Kurzbiographien vorgestellt, wobei immer wieder die Vielzahl von zu würdigenden Personen verblüfft. „In jedem Fall zeigen die darin vorgestellten Biogramme, dass von wesentlich mehr Menschen Initiativen, Wissensvermittlung und autonome Leistungen für die Pflege ausgingen, als dies bisher von der historischen Pflegewissenschaft wahrgenommen wurde beziehungsweise allgemein bekannt ist“, schreibt der Herausgeber im Vorwort¹. Insgesamt umfassen die elf Bände des Lexikons jetzt über 1500 pflegehistorisch relevante Personen, allein im vorliegenden Band werden 66 Männer und Frauen gewürdigt, die in der Pflege und deren Weiterentwicklung eine Rolle gespielt haben.

Der aktuelle Band ist der kürzlich verstorbenen Krankenschwester und Pflegewissenschaftlerin Dr. Ruth Schröck (1931-2023) gewidmet, einer Pionierin der Psychiatriepflege, der Entwicklung der Pflegewissenschaft und der Akademisierung der Pflegeausbildung. Weitere hier vertretene Zeitgenossinnen sind Elisabeth Derup (1937-2023), die Mitbegründerin des „Deutschen Vereins für Pflegewissenschaft“ (seit 2005 „Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft“), Naomi Gisela Feil (1932-2023), eine deutsch-amerikanische Gerontologin, die Maßgebliches zur Verbesserung der Betreuung von Alzheimer-Patienten beigetragen hat sowie Anneliese Fricke (1923-2014), die u. a. als Oberin und Schriftleiterin der Verbandszeitschrift „Die Agnes-Karll-Schwester“ (ab 1972 „Krankenpflege“) berufspolitisch engagiert war. Indem sich die Würdigung nicht nur auf historische, sondern auch auf zeitgenössische Personen erstreckt, wird das Lexikon somit auch zu einer Chronik der Entwicklung der Pflegewissenschaften, die ihre volle Wirkung erst in einigen Jahrzehnten entfalten wird.

Die Autorin setzt das Lexikon schon lange erfolgreich in der akademischen Lehre ein, denn jede angehende Pflegefachfrau und jeder angehende Pflegefachmann sollte Namen wie Theodor Fliedner, Florence Nightingale oder Agnes Karll kennen und mit diesen Namen auch konkrete historische Entwicklungen verbinden. Gerade junge Menschen prägen sich historische Ereignisse besser ein, wenn sie mit einer greifbaren Person verbunden werden können.

Auch fachfremde Leser werden das Lexikon, das in erster Linie ein Nachschlagewerk, aber auch ein „Lesebuch“ ist, mit Gewinn  zur Hand nehmen. Pierre Pfütsch schrieb unlängst: „Galten biographische Zugänge in den letzten 30 Jahren eher als dröge und veraltet, erfreuen sie sich seit einiger Zeit wieder größerer Beliebtheit, was wohl nicht zuletzt auch an dem wachsenden Geschichtsinteresse des Laienpublikums liegt. Beliebte Publikationsanlässe für Biographien sind Jubiläen, Jahrestage oder Aktualitätsbezüge.“²

Auch wenn schon zahlreiche Persönlichkeiten der Pflegegeschichte gewürdigt wurden, besteht noch weiterer Forschungsbedarf. So ist der Reihe eine Fortsetzung, vielleicht auch in digitaler Form, sehr zu wünschen. Dem Herausgeber gebührt ein besonderer Dank für seine ehrenamtliche, ohne institutionelle Unterstützung geleistete Arbeit.

Eine Rezension von Annett Büttner

Jürgen Helfricht

Notschriften Verlag, Radebeul, 2024, 32 Seiten, Festeinband, 24,90 €, ISBN 978-3-948935-59-7

In Kriegsgebiete eilend, stand eine couragierte Frau unermüdlich sterbenden Soldaten bei, pflegte Verwundete egal welcher Nation und organisierte unbürokratisch Hilfe. Die Rede ist von Marie Simon (1824-1877), die bereits zu Lebzeiten als „ein Muster selbstloser Menschenliebe“ und „Ehrenbürgerin Europas“ galt. Die durchsetzungsstarke, mutige und verstandesscharfe Sorbin, die im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht, hatte schon als junge Frau sich selbst pflegerische Kenntnisse beigebracht, im Diakonissenkrankenhaus in Dresden und in der Universitätsklinik in Leipzig hospitiert, bevor sie durch ihre zweite Ehe 1853 zur Inhaberin einer Weißwarenhandlung in der Residenz- und Landeshauptstadt Dresden wurde.

Spätestens während der Schlacht von Königgrätz im Preußisch-Österreichischen Krieg im Sommer 1866, bei der sie die Schlachtfelder in Böhmen aufsuchte, erkannte die 41-Jährige ihre Mission des Helfens und Heilens. Durch die Rettung vieler Leben bekannt geworden, berief Königin Carola von Sachsen (1833-1907) sie in das erste Direktorium des im September 1867 in Dresden als Frauenverein vom Roten Kreuz gegründeten Albert-Vereins. Während ihrem Einsatz im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, in dem sie ihr hingebungsvolles Wirken perfektionierte, schrieb Marie Simon Briefe und Tagebuchblätter, die sie 1872 unter der Überschrift „Meine Erfahrungen auf dem Gebiete der Freiwilligen Krankenpflege“ im renommierten Leipziger Verlag F. A. Brockhaus veröffentlichte. Als deutsches Pendant zur englischen Reformerin Florence Nightingale (1820-1910) hochgeehrt, setzte sie sich fortan – nicht zuletzt auch durch ihr wenig später veröffentlichtes Lehrbuch „Die Krankenpflege. Theoretische und praktische Anweisungen“ (Leipzig 1876) – dafür ein, die weltliche Krankenpflege zum Frauenberuf zu machen und Arme bestmöglich zu versorgen.

Den 200. Geburtstag von Marie Simon im Jahr 2024 nahm das Sächsische Rote Kreuz (https://drksachsen.de/start/startseite.html) zum Anlass für ein Gedenkjahr, um die alsbald in Vergessenheit geratene Heldin der humanitären Hilfe posthum zu würdigen. In diesem Zusammenhang wurde ihr zu Ehren unter anderem im sächsischen Rot-Kreuz-Museum in Beierfeld
(https://www.drk-asz.com/angebote/engagement/
rotkreuzmuseum.html) eine Sonderausstellung mit dem Titel „Kriegsschwestern – Frauen im Krieg“ eröffnet, in ihrem Geburtsort Doberschau durch den Landesfrauenrat ein Denkmal eingeweiht und in Dresden die Tagung „Krankenhauspflege in Kriegs- und Friedenszeiten aus historischer Perspektive“ der Sektion Historische Pflegeforschung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e. V. (DGP) und des DRK-Landesverbands veranstaltet. Ferner gab Thomas Klemp ihr Buch von 1872 „Meine Erfahrungen auf dem Gebiete der Freiwilligen Krankenpflege im Deutsch-Französischen Kriege 1870-71“ neu als Band 12 der im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes e. V. (DRK) und der Stiftung Rotkreuz-Museum im Land Brandenburg von Petra Liebner, Rainer Schlösser, Volkmar Schön und Harald-Albert Swik herausgegebenen Schriftenreihe „Beiträge zur Rotkreuzgeschichte“ (vgl. die Rezension des Verfassers in: Geschichte der Gesundheitsberufe. Historisches Fachmagazin für Pflege- und Gesundheitsberufe,
13. Jg., Ausgabe 2-2024, S. 119-121) heraus.

Schließlich erschien 2024 auch die Biographie „Marie Simon. Die deutsche Nightingale aus der sorbischen Lausitz“ des Dresdner Publizisten Jürgen Helfricht. Der Autor (Jahrgang 1963), der von 1985 bis 1989 Diplom-Journalistik an der Universität Leipzig studierte und 2004 an der Palacký-Universität in Olmütz (Tschechien) mit der medizinhistorischen Arbeit „Der Pionier der Naturheilbewegung Vincenz Prießnitz 1799-1851 und die Rezeption seiner Hydrotherapie im deutschsprachigen Raum bis 1918“ (Husum 2006) promovierte, legte bereits eine Vielzahl unterschiedlichster Publikationen vor, etwa zur Ganzheits- und Schulmedizin, Astronomie-, Hochadels-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Zu seiner Heimatstadt Dresden veröffentlichte er unter anderem „Dresden und seine Kirchen“ (Leipzig 2005), „Das Königliche Dresden“ (Husum 2011), „Die Dresdner Frauenkirche“ (Husum 2014) und „Dresdens Pracht und Monarchie. Residenzschloss & Fürstenzug“ (Husum 2016). Jüngst erschien von ihm die sechste, erweiterte und aktualisierte Auflage seines Werkes „Die Wettiner – Sachsens Könige, Herzöge, Kurfürsten und Markgrafen“ (Radebeul 2024).

Seit 1993 Chefreporter für die Lokalredaktion Dresden der Bild-Zeitung, wurden Artikel von Jürgen Helfricht vom Medien-Watchblog „Bildblog“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Bildblog), in dem seit 2004 mehrere Medienjournalisten auf Fehler in der Berichterstattung, ungenügend recherchierte Artikel und Schleichwerbung hinweisen und auch auf Verstöße gegen den Pressekodex aufmerksam machen, wiederholt kritisiert. Nachdem der Medienblog „Übermedien“, ein 2016 gegründetes deutschsprachiges Onlinemagazin für Medienkritik (https://de.wikipedia.org/wiki/Übermedien), am 1. Dezember 2023 die Ergebnisse einer Recherche veröffentlicht hatte, wonach Jürgen Helfricht im Jahr 2018 an der Veröffentlichung des russlandfreundlichen, in einer deutschen und einer russischen Ausgabe (mit Vorwort von Kremlchef Wladimir Putin) des Buches „Russland lieben lernen“ als Co-Autor von Hans-Joachim Frey (Jahrgang 1965), dem ehemaligen Chef des Dresdner Opernballs, beteiligt war , wurde er von der Bild-Redaktion, die das Projekt „niemals genehmigt hätte“, am 1. Dezember 2023 mit sofortiger Wirkung freigestellt.

Zur vorliegenden Biographie über Marie Simon, die scheinbar als Arbeit im Auftrag vom Deutschen Roten Kreuz Sachsen entstanden ist, wie aus einem kurzen Hinweis des Autors bei seinen Danksagungen (S. 226) ersichtlich ist, hat Thomas Klemp, Berater Historische Kommunikation beim DRK im Landesverband Sachsen e. V., ein Vorwort beigesteuert (S. 4-5), in dem er darauf hinweist, dass Marie Simon „eine außergewöhnliche Frau“ war, deren Persönlichkeit, Lebenswerk, Wirken und humanitäre Haltung in ganz Europa anerkannt und hoch geschätzt, nach ihrem Tod aber bald vergessen wurden. Dabei liege einiges von Marie Simons Lebensweg noch im Dunkeln. Zur Bedeutung und Intention der Veröffentlichung hält er wörtlich fest: „Wir wollen, dass das Wenige, was wir von Marie Simon wissen, zusammengetragen, ergänzt und neu erzählt wird. So würdigen wir die entscheidende Gründungspersönlichkeit des Roten Kreuzes in Sachsen und empfehlen sie als Vorbild.“

Ausgehend von ihrer Geburt und aufbauend auf die Betrachtung ihrer Familie, ihrer Kindheit und ihren Schulbesuch in der Oberlausitz sowie ihrer ersten Ehe in der Residenz- und Hauptstadt Dresden, beschreibt Jürgen Helfricht die Scheidung der ersten Ehe und erneute Hochzeit mit dem Kaufmann Friedrich Anton Simon, wodurch Marie ein Aufstieg in bürgerliche Kreise gelang. Sodann stellt er ausführlich die Arbeit von Marie Simon als Geschäftsfrau vor, ebenso wie ihr aufopferungsvolles Wirken als Retterin in den Lazaretten bei Königgrätz und ihre daraufhin erfolgten Auszeichnungen und Ehrungen. Weitere Kapitel zeichnen sodann dezidiert die Arbeit von Marie Simon im Direktorium des Albertvereins, ihren Einsatz auf den Schlachtfeldern des Krieges von 1870/71, die von ihr gegründete „Deutsche Heilstätte für Invalide und Kranke“ und ihr Engagement für die Ausbildung von Krankenpflegerinnen nach.

Am Ende seiner Darstellung geht Jürgen Helfricht schließlich der interessanten Frage nach, warum die „einst berühmte Samariterin“ in Vergessenheit geriet, wobei die Gründe hierfür seines Erachtens „mannigfaltig“ sind. Mit dem Wirken auf den Schlachtfeldern, dem Bau der privaten Heilstätte und ihrer forschen, mobilisierenden, wenig auf Konventionen achtenden Persönlichkeit, sei Marie Simon vielfach auf Widerstand gestoßen und habe sich – so sei es verschiedentlich überliefert – nicht nur Anerkennung und Freunde geschaffen: „Ihre Kritiker, Neider und möglichen Feinde hielten sich allerdings bis zu ihrem Tode mit Attacken zurück. Galt Marie Simon doch durch Protektion des Königspaares, hohe internationale Auszeichnungen, die in zahlreichen Medien idealisierten Verdienste und jene sich auch beim Begräbnis nochmals offenbarende Zuneigung breiter Volksschichten als beinahe unangreifbar“ (S. 220).

Nachteilig für ihren längerfristigen Ruhm sei auch gewesen, dass einstige Förderer und Gönner verstarben. Marie Simon, die keine politischen Forderungen formuliert hatte, sei mit ihren konservativen Auffassungen und dem verteidigten traditionellen Familienbild kaum auf eine Stufe mit typischen Kämpferinnen der Frauenbewegung gestellt worden: „Zwar war sie in vielem Vorbild, der Einsatz für die Pflegerinnenausbildung in der weltlichen Krankenpflege und die legendäre Durchsetzungskraft weit und breit ohne Beispiel. Doch die Parteinahme für das Wohltätigkeitsprinzip und das Festhalten an der Geschlechterpolarität schien wohl nicht revolutionär genug“ (S. 223).

Während der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 habe Marie Simon als geborene Sorbin nicht zu Ehren kommen können, sei doch in der NS-Ideologie zur ethnischen Auslöschung der slawischen Minderheit deren Abschiebung ins Generalgouvernement geplant gewesen.

Bedauerlich sei schließlich gewesen, so der Autor, dass die humanistische Traditionen pflegende Historiographie der Rot-Kreuz-Bewegung im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem der Bundesrepublik Deutschland Marie Simon nicht wahrgenommen habe. Obwohl Zentralausschuss und Präsidium als leitende Organe des am 23. Oktober 1952 gegründeten Deutschen Roten Kreuzes der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) ihren Sitz in Dresden hatten, habe eine Wiederbesinnung auf Marie Simon aus ideologischen Gründen nicht stattgefunden: „Der ‚Arbeiter- und Bauernstaat‘ kannte keine Idole, welche u. a. mit Kronprinzessinnen, Königinnen oder der Kaiserin sympathisierten und dem Direktorium eines Vereins angehörten, welchen die Sowjetische Militäradministration in Deutschland verbot“ (S. 224).

So habe es grundlegender gesellschaftlicher Umbrüche der friedlichen Revolution im Herbst 1990 sowie engagierter Bürger, Forscher und Institutionen wie dem Roten Kreuz im sächsischen Geburtsland von Marie Simon bedurft, die Vergessene zurück ins Bewusstsein zu holen. Am Ende seiner Ausführungen hält Jürgen Helfricht fest: „Es bleibt zu wünschen, dass das Interesse, die Vergangenheit zu kennen und Schlussfolgerungen aus der Geschichte zu ziehen, weiter anhält. Auch wenn es jeder Generation vorbehalten bleibt, den Betrachtungswinkel historischer Persönlichkeiten neu zu justieren, besteht nun Hoffnung, dass Marie Simon nicht wieder so lange unverdient der Vergessenheit anheimfällt“ (S. 225). Diesem Wunsch des Autors kann sich der Rezensent nur vollumfänglich anschließen.

Insgesamt betrachtet besticht die von Jürgen Helfricht vorgelegte Biographie über Marie Simon, die mit Schwarzweiß- und Farbabbildungen reich bebildert ist, durch viele neu erforschte Details. Die Darstellung, die durch ein Verzeichnis der Quellen sowie ein Personenverzeichnis ergänzt wird, gewährt – eingebunden in die allgemeinen Lebensumstände der damaligen Zeit – nicht nur tiefe Einblicke in das Leben einer faszinierenden und bedeutenden Frau der Krankenpflege, sondern auch in die Frühgeschichte des Roten Kreuzes in Sachsen und der Stadt Dresden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bleibt zu hoffen, dass durch die Veröffentlichung – mit dem treffend gewählten Untertitel „Die deutsche Nightingale aus der sorbischen Lausitz“ – die Bedeutung von Marie Simon einem größeren Publikum inner- und außerhalb der Pflege (wieder) bekannt wird und nachhaltig in Erinnerung bleibt.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling

 

Barbara Bojack

Lehmanns Media Verlag, Berlin, 2024, Broschur, 205 Seiten, 16,95 €, ISBN: 978-3-96543-502-5

Unter denjenigen, die heute ein Medizinstudium beginnen, ist der Anteil an Frauen höher als der von Männern. Dies ist relativ neu, war Frauen doch über lange Zeit der Zugang zum Studium generell verwehrt. Als sie dann schließlich doch Medizin studieren durften, war es häufig ein steiniger Weg bis zu ihrem Einstieg ins Berufsleben. Was einzelne „Pionierinnen der Medizin“ – ab dem 20. Jahrhundert bis heute – erlebt haben, wie ihr beruflicher und privater Lebensweg aussah, möchte das vorliegende Buch auf Basis von Interviews mit Ärztinnen nachzeichnen.

Verfasst wurde das Buch von Barbara Bojack, die nach dem Studium der Medizin in Tübingen dort auch 1985 mit einer Arbeit über „Die Ureterozele im Kindesalter“ zum Dr. med. promovierte und 1993 Fachärztin für Urologie wurde. Nach Tätigkeit in Kliniken, im öffentlichen Gesundheitswesen und im Strafvollzug arbeitet sie seit 1997 in eigener Praxis als Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin in der hessischen Universitätsstadt Gießen, wobei sie „das Wohl ihrer Patienten in den Mittelpunkt des Handelns“
(http://www.psychotherapie-bojack.de) stellt.

Die Autorin, die seit 2002 auch eine Lehrtätigkeit an der Universität Eichstätt im Bereich Sozialmedizin und seit 2008 als Honorarprofessorin an der Universidad Buenos Aires (medizinische Fakultät) wahrnimmt, ist seit 2015 in der Soziologie habilitiert. Ihr Forschungsschwerpunkt, zu dem sie zahlreiche Buch- und Zeitschriftenbeiträge veröffentlichte (http://www.psychotherapie-bojack.de/index.php/publikationen), ist Gewalt in verschiedenen Bereichen.

Der schmale Band gliedert sich in fünf Kapitel. Im Anschluss an eine „Historische Einführung“ (S. 7-11), „Konzept und Überlegungen zu den Interviews“ (S. 13-15) sowie Hinweise zum „Forschungsstand“ (S. 17-18) und „Umsetzung“ (S. 19-20), folgen 13 „Lebensgeschichten“ (S. 21-185) und ein „Schlusswort“ (S. 187-189). Ergänzt wird die Darstellung durch einen „Anhang“ (S. 191-204) mit kurzen Ausführungen, etwa zur Methodik, Interviewführung und Transkription.

Die historische Einführung zur Entwicklung der Beteiligung von Frauen am Studium und im Beruf als Ärztin sowie das vorgestellte Konzept zu den Interviews fallen mit knapp vier und zwei Seiten nicht nur sehr bescheiden aus, sondern beruhen größtenteils auch auf veralteten Daten. Nicht zuletzt zur Einordnung der präsentierten Lebensgeschichten hätte man sich hier sowohl ausführlichere als auch aktuelle Informationen gewünscht. So waren beispielsweise im Wintersemester 2021/2022 in Deutschland insgesamt 105.275 Studierende im Fach Humanmedizin eingeschrieben, von denen etwa zwei Drittel (67.149) der Studienanfänger:innen Frauen waren. Zum Vergleich: Im Jahr 2008/2009 war nur knapp die Hälfte (48.644) der neuen Studierenden weiblich. Nach Angaben der Bundesärztekammer ist auch der Anteil der Ärztinnen an der Gesamtzahl der berufstätigen Ärzt:innen 2021 weiter angestiegen und zwar auf 48,5 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahr 1991 betrug der Frauenanteil unter den berufstätigen Ärzt:innen noch 33,6 Prozent, also nur rund ein Drittel.

Auch den Forschungsstand zu Biographien von Ärzt:innen legt Barbara Bojack mit gut einer Seite wiederum sehr bescheiden dar. Es gäbe zwar „diverse Zusammenstellungen von weiblichen Lebensläufen“, ein großer Teil sei aber unveröffentlicht und ruhe in – von der Autorin leider nicht namentlich genannten – Archiven. Von daher sei es notwendig, „weibliche Biografien in der Medizin zu erheben und sie dann auszuwerten. Hier könnten Hinweise enthalten sein, wie es dazu kommt, dass Frauen in diesem Berufsbereich zwar vertreten sind, jedoch nicht in höheren Positionen“ (S. 18).

Bei ihren Hinweisen zur Interviewführung und Transkription stellt Barbara Bojack fest, dass die Darstellung der Interviews „intensiv und aufschlussreich“ sei, weshalb „auf die Analyse verzichtet“ werde; diese könnten aber jederzeit angeschlossen werden unter Zuhilfenahme des Gesamtinterviews. Die anschließend vorgestellten Transkripte der Interviews seien chronologisch angeordnet: „Dadurch entsteht eine Sicht auf Lebensläufe von Ärztinnen im Zeitverlauf und die veränderten Situationen, denen sie sich anzupassen und zu stellen hatten und haben“ (S. 20).

Im Schlusswort macht die Autorin darauf aufmerksam, dass es sich bei den Frauen, mit denen sie die Interviews führte, „um eine besondere Selektion“ handelt: „Alle Kolleginnen sind besonders engagiert, haben ihren Beruf als Berufung gewählt, sind ihren individuellen Weg gegangen. Sie sind humorvoll und zuversichtlich, nahmen auch Umwege in Kauf. Sie alle bekleiden verschiedene Rollen und wurden diesen gerecht“ (S. 187).

Aufgrund des Forschungsstands hat die Forderung von Barbara Bojack nach Erhebung und Auswertung von weiblichen Biografien in der Medizin sicherlich ihre Berechtigung. Es stellt sich natürlich die Frage, warum sie nicht die Gelegenheit ergriffen und im Rahmen ihres Buchprojekts die Aufgabe gelöst hat. So stellt die Autorin zwar einige Fragestellungen zur Auswertung der Interviews vor, beantwortet diese aber nicht. Zudem zeigt die Veröffentlichung eine Reihe methodischer Mängel, indem nirgends Kriterien zur Auswahl der interviewten Personen, zum Ziel der Erhebung, zum Ort und Zeit der Interviews bis hin zur „Überarbeitung“ (S. 205), die die erhobenen Daten durch den Physik- und Biologielehrer Joachim Mietusch erfahren haben, benannt werden. Warum die Namen aller Interviewten, die heute scheinbar in Hessen beziehungsweise dem Großraum Gießen zu Hause sind, anonymisiert wurden, bleibt ebenfalls unklar. Bei einigen von ihnen, das sei nebenbei bemerkt, ist es übrigens aufgrund bestimmter Angaben ein leichtes, den Namen mit Hilfe diverser Such-Maschinen in Erfahrung zu bringen. Schließlich ist zu beanstanden, dass das Buch zwar ein Literaturverzeichnis enthält, sich dort aber lediglich 17 „Anmerkungen“ finden, während die in Harvard-Zitierweise (Kurzbeleg mit Angabe von Namen und Jahreszahl) benutzte „Literatur“ nicht verzeichnet ist.

Sieht man hiervon einmal ab, sind die einzelnen Lebensgeschichten durchaus spannend, interessant und lesenswert, auch wenn es hierzu keine systematische Analyse und Auswertung gibt. Unterdessen dürften die darin immer wieder zu findenden Aussagen zur Benachteiligung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, auch wenn in den präsentierten Texten zuweilen ein anderer Eindruck erweckt wird, nicht nur ein Problem von Medizinstudentinnen und Ärztinnen gewesen sein. Eine Beurteilung der Situation unter heutigen Gesichtspunkten ohne Berücksichtigung der zeitgenössischen Verhältnisse muss zwangsläufig zu kurz fassen und zu anderen Ergebnissen führen.

Wer also ein Buch mit Lebensgeschichten von Ärztinnen im 20. und 21. Jahrhundert lesen möchte, wird an dem „Ärztinnenbuch“ beziehungsweise den „Pionierinnen der Medizin“ seine Freude haben. Wer die Veröffentlichung jedoch in der Hoffnung zur Hand nimmt, eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema zu lesen, wird eher enttäuscht sein.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling