Aggressives Verhalten in Altenpflegeheimen (Seidl, Norbert)Mabuse-Verlag. Frankfurt am Main 2010, 225 Seiten, broschiert, 24,90 Euro, ISBNRezension von: Dr. Hubert Kolling |
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Die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung hat in den Industrieländern im Verlauf des 20. Jahrhunderts stark zugenommen. Gleichzeitig stieg in den vergangenen Jahren deutlich der Anteil an Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die auch unter aggressivem Verhalten leiden. Aggressives Verhalten wird dabei in entsprechenden Betreuungs- und Versorgungseinrichtungen als Ursache für einen erheblichen Betreuungsaufwand und für eine beeinträchtigte Lebensqualität aller Betroffenen genannt. Aggressionen stellen eine besondere Herausforderung für das stationäre Versorgungssystem dar, weil dieses konzeptionell nicht darauf vorbereitet ist. Über Verteilung und Ursachen aggressiven Verhaltens in deutschen Altenpflegeeinrichtungen liegen bislang aber noch wenig konkrete Erkenntnisse vor. Ebenso fehlt es an geeigneten Strategien und Konzepten, mit dieser Klientel angemessen umzugehen.
Ein wenig Licht in das Dunkel bringt hier das Buch von Norbert Seidl "Aggressives Verhalten in Altenpflegeheimen", in dessen Mittelpunkt die Bewohner von gerontopsychiatrischen Wohnbereichen deutscher Altenpflegeheime stehen. Im Rahmen einer empirischen Studie, der seine 2010 der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld vorgelegte Dissertation zugrunde liegt, ist der Autor darin der Frage nachgegangen, wie häufig verbal und oder physisch aggressives Verhalten bei kognitiv beeinträchtigten Bewohnern von Altenpflegeheimen auftritt und welche verhaltenswirksamen Ursachen sich für dieses Verhalten identifizieren lassen. Hierbei orientiert er sich an der "Frustrations-Aggressions-Theorie" und an der "Aktualgenese von Ärger-Aggression", die es ermöglichen, aggressives Verhalten auch bei kognitiv beeinträchtigten Mensche zu erklären und entsprechende Einflussfaktoren abzuleiten.
Die wissenschaftliche Untersuchung gliedert sich in die folgenden Hauptpunkte:
Nach der Einleitung (Kapitel 1) beginnt die Arbeit mit einer Beschreibung des demografischen Wandels und der Veränderung des Krankheitsspektrums in Deutschland. Hierbei werden insbesondere die sich daraus ableitenden Konsequenzen für die stationäre Versorgung von alten und hochaltrigen Menschen ausführlich dargestellt (Kapitel 2). Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Anzahl kognitiv beeinträchtigter Menschen in Altenpflegeheimen und des damit verbundenen Zuwachses an Pflegebedarf wird anschließend der Forschungsstand über aggressives Verhalten diskutiert (Kapitel 3). Um dies für Aggressionen zielgerichtet zu belegen, bildet Norbert Seidl eine Arbeitsdefinition, die es ermöglicht, aggressives Verhalten von anderen Verhaltensweisen in den herangezogenen Studien zu unterscheiden. Sodann erfolgt eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Aggression, wobei sowohl Triebtheorien als auch Theorien zum sozialen Lernen herangezogen werden (Kapitel 4). Schwerpunktmäßig wird dabei jedoch die "Frustrations-Aggressions-Theorie" betrachtet und auf den Gegenstand der kognitiv beeinträchtigten Menschen bezogen. Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass Frustrationen, die Bewohner im Versorgungsalltag erleben, und Reaktionen hierauf in Gestalt von Ärger oder Wut entsprechende Aggressionen auslösen. Anschließend daran wird die Fragestellung der vorliegenden Arbeit detailliert beschrieben.
Die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegende Daten wurden im Rahmen des Forschungsprojekts "Selbst- und fremdgefährdetes Verhalten bei psychisch veränderten Heimbewohnern" erhoben, das im Rahmen des Pflegeforschungsverbunds Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde. Im Methodenteil werden hierzu das Forschungsdesign und Durchführung des Forschungsprojekts beschrieben sowie die Instrumente und die abgefragten Variablen ausführlich vorgestellt, ebenso wie die Auswertungsmethode (Kapitel 5). Im Ergebnisteil (Kapitel 6) folgt auf die Beschreibung der Stichprobe die Darstellung aggressiven Verhaltens, das differenziert in verbal und physisch aggressives Verhalten gegen Personen sowie in ein Verhalten, das gegen Dinge gerichtet ist, differenziert wird. Nach der Identifizierung aggressiver Verhaltensformen werden univariat verhaltenswirksame Einflussfaktoren beschrieben und in einem abschließenden Prognosemodell multivariat überprüft. Abschließend diskutiert der Autor die Ergebnisse unter Rückgriff auf die angewandte Theorie, den Forschungsstand und auf offene Fragen der Versorgung kognitiv beeinträchtigter Menschen in Altenpflegeheimen (Kapitel 7).
Über seine Untersuchung hält Norbert Seidl zusammenfassend fest: "Die Ergebnisse zeigen, dass eine Differenzierung verschiedener Formen von aggressivem Verhalten bei kognitiv beeinträchtigten Heimbewohnern kein Personenmerkmal, sondern ein Ergebnis von De-Autonomisierungsprozessen darstellt und mit Frustrationen in Zusammenhang zu sehen ist. Die Annahme einiger Definitionen, dass Aggressionen immer eine Schädigungsabsicht zugrunde liege, ist für die hier untersuchte Personengruppe mit kognitiven Defiziten nicht zielführend. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Aggressionen eine Reaktion auf belastende und behindernde Situationen darstellen. Die von Außenstehenden beobachtbare Aggression ist daher als verbliebene Ausdrucksform und als Hinweis auf vielfältige Probleme zu bewerten und kann für professionell Pflegende als Indikator für Interventionsbedarf dienen" (S. 189).
Unter Einbeziehung der Ergebnisse aus der internationalen und nationalen Diskussion erscheint ist es nach Ansicht des Autors notwendig und sinnvoll, im Rahmen von Beobachtungsstudien die Entwicklungsdynamik aggressiven Verhaltens näher zu analysieren. Ebenso seien in Bezug auf konkrete Präventions- und Interventionsmaßnahmen spezifische Evaluationsstudien notwendig, die über die Evaluation einer isolierten Maßnahme, wie spezielle Programme bei der Körperpflege oder der Einsatz von Aroma-, Licht- beziehungsweise Musiktherapien hinausgehen. In jedem Fall müssten Interventionen zur Verhaltensmodifikation nicht an der Bewohnerebene ansetzen, sondern an der Ebene der professionell Pflegenden. Hier sei ein entsprechender Perspektivenwechsel notwendig, um dem Interesse der Bewohner gerecht zu werden.
Norbert Seidl hat mit seiner Untersuchung eine lange Zeit wenig beachtetes und mittlerweile zunehmend brisantes Problem intensiv beleuchtet. Damit hat er nicht nur einen theoretisch abgesicherten Beitrag zur Diskussion über Entstehungsfaktoren aggressiven Verhaltens geleistet, sondern auch das diesbezügliche gesundheits- und pflegewissenschaftliche Wissen erweitert. Sein Buch ist über den Wissenschaftsbereich hinaus für alle lesenswert, die in (gerontopsychiatrischen Wohnbereichen von) Altenheimen arbeiten.
Prof. Dr. Doris Schaeffer hat zu der Veröffentlichung ein Vorwort beigesteuert,
in dem sie auf die Bedeutung der Studie hinweist: "Die Ergebnisse der vorliegenden
Untersuchung unterstreichen die Komplexität der Einflussfaktoren, die die
Entstehung aggressiven Verhaltens begünstigen. Sie weist eindrucksvoll
darauf hin, dass aggressives Veralten als emotionale Reaktion auf täglich
erlebte Überforderungen und Frustrationen durch Einschränkungen und
Begrenzungen im Versorgungsalltag zu verstehen ist, dem nur mit einem entsprechenden
Perspektivenwechsel begegnet werden kann. Sie liefert zugleich wichtige Grundlagen
für die Optimierung der Versorgungsgestaltung in Altenpflegeheimen."
Das Buch "Aggressives Verhalten in Altenpflegeheimen" erscheint in
der Bonner Schriftenreihe "Gewalt im Alter", in der zum besagten Problembereich
Tagungen und Fachveranstaltungen dokumentiert sowie diesbezügliche wissenschaftliche
Arbeiten seit 1997 veröffentlicht werden, um neue Erkenntnisse über
diese Themen der Fachwelt leichter zugänglich und für die Praxis nutzbar
zu machen.