Pflegepionierinnen in Deutschland – Zur Entwicklung der Pflegewissenschaft

pflegepionierinnen in deutschland pflegewissenschaftIngeborg Löser-Priester
Pflegepionierinnen in Deutschland
Zur Entwicklung der Pflegewissenschaft

Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main 2021, broschiert, 282 Seiten, 39,95 €, ISBN 978-3-86321-442-5

In den letzten drei Jahrzehnten ist es gelungen, die Pflegewissenschaft in Deutschland breit im Hochschulsektor zu verankern: 2021 boten 58 Fachhochschulen, 14 Universitäten sowie sechs (Berufs-)Akademien und anderweitige Institute – 43 davon in staatlicher, 15 in kirchlicher und 20 in privatwirtschaftlicher Trägerschaft – ein Pflegestudium an. Das Angebot umfasst dabei insgesamt 149 Pflege-Studiengänge, davon 105 Bachelor und 44 Master. Eindeutig führend ist die Pflegewissenschaft, gefolgt von Pflegemanagement und Pflegepädagogik, die durch spezialisierte Pflege-Studiengänge, wie etwa Advanced Nursing Practice oder Palliativpflege, ergänzt werden.

Wenngleich die Entwicklung hierzulande im internationalen Vergleich, insbesondere gegenüber den USA, aber auch den angelsächsischen und skandinavischen Ländern lange Zeit hinterherhinkte, gab es erste Bemühungen einer Akademisierung der Krankenpflege in Deutschland bereits Anfang des 20. Jahrhunderts. Entsprechende Initiativen von verschiedenen Protagonistinnen der frühen Frauenbewegung wurden jedoch unter anderem durch den Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) auf Jahrzehnte hin abgedrängt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945) konnte die Entwicklung der Pflegewissenschaft und die damit verbundene Akademisierung der Pflegeberufe vor allem durch Einzelinitiativen vorangetrieben werden, die auf einen hohen persönlichen Einsatz einzelner Frauen zurückzuführen sind. Ihre beruflichen Lebenswege stehen im Zentrum des vorliegenden Buches der Krankenschwester, Lehrerin für Pflegeberufe und Dipl.-Soziologin Prof. Dr. phil. Ingeborg Löser-Priester (Jahrgang 1959), die am Fachbereich IV (Sozial- und Gesundheitswesen) der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen den dualen Bachelorstudiengang Pflege leitet. Zu Wort kommen darin einige Pflegepionierinnen, die von ihrem beruflichen Werdegang sowie ihren Herausforderungen und Erfahrungen beim Aufbau und der Institutionalisierung der Pflegewissenschaft berichten.

Die Autorin, die nach ihrer Diplomarbeit zum Thema „Pflege studieren. Der Akademisierungsprozess in den Pflegeberufen am Beispiel hessischer Pflegestudiengänge“ (Frankfurt am Main 1995) 2001 an der Universität Frankfurt mit einer Arbeit über die „Privatisierung öffentlicher Krankenhäuser und Partizipation der Beschäftigten. Eine Fallstudie zur Modernisierung des öffentlichen Dienstes“ (Frankfurt am Main 2003) promovierte, veröffentlichte neben diversen Zeitschriftenbeiträgen unter anderem auch (gemeinsam mit Klaus Priester) das Buch „Gesundheits- und Pflegeforschung – von der Idee zum Forschungsbericht. Ein Leitfaden für Studium und Praxis“ (Frankfurt am Main 2005).

Wie Ingeborg Löser-Priester einleitend schreibt, versteht sie unter Pflegepionierinnen „Wegbereiterinnen und Professorinnen der Pflegewissenschaft […], welche in Deutschland erste Voraussetzungen für die Pflegewissenschaft entwickelt sowie die ersten Pflegestudiengänge eingerichtet und geprägt haben“ (S. 12). Mit ihrem Engagement hätten sie „wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung der Pflegewissenschaft und die Verankerung der Disziplin im Hochschulsektor“ geschaffen. In der Folge habe in der Pflege eine stärker wissenschaftlich orientierte Diskussion eingesetzt, die durch erste (außeruniversitäre) Forschungsprojekte und die Rezeption von Pflegetheorien aus dem angloamerikanischen Raum verstärkt worden sei.

Nach der Einleitung gliedert sich die Darstellung in zwei Teile. Während im ersten Teil (S. 17 – 53) in drei Kapiteln die Anfänge der Entwicklung der Pflegewissenschaft und Akademisierung der Pflegeberufe – konkret wegbereitende Initiativen und (Modell-)Projekte im Bildungsbereich der Pflege (1950er bis 1980er Jahre), wegbereitende Initiativen und Projekte in der Pflegeforschung (1970er bis 1980er Jahre) und der Aufbau akademischer Strukturen für die Pflege seit Ende der 1980er Jahre – skizziert werden, stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils (S. 55 – 266), der wesentlich umfangreicher ist, die beruflichen Lebenswege ausgewählter Pflegepionierinnen und ihre persönlichen Erfahrungen mit der Entwicklung der Pflegewissenschaft. Die entsprechenden Personen – im Einzelnen handelt es sich hierbei um Renate Reimann, Gerda Kaufmann, Prof. Dr. Ruth Schröck, Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik, Prof. Monika Krohwinkel, Prof. Christel Bienstein und Prof. Dr. Hilde Steppe (1947 – 1999) – wählte die Autorin „aufgrund ihres Bekanntheitsgrades und ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Pflegewissenschaft und Akademisierung der Pflegeberufe.“ Eine Auswahl habe aufgrund der Handhabbarkeit des Vorhabens getroffen werden müssen, was unvermeidbar zum Ausschluss anderer an der Entwicklung der Pflegewissenschaft beteiligten Personen geführt habe. Diese fänden allerdings zum Teil Erwähnung und Würdigung durch die Pionierinnen selbst in den Interviews und im ersten Teil des Buches.

Die einzelnen Erzählungen steuerte Ingeborg Löser-Priester durch „Themenkreise“, die sie in einem Leitfaden vorab festgelegt hatte. Auf diese Weise schildern die vorgestellten Pflegepionierinnen ihren beruflichen Lebensweg vom Ende der Schulzeit, der Ausbildung zur Krankenschwester bis zur Professur beziehungsweise der letzten beruflichen Position. Sodann berichten sie von ihren Erfahrungen mit dem Aufbau der Pflegewissenschaft in Deutschland und der Implementierung im etablierten Wissenschaftsbetrieb, ebenso wie vom Umgang mit Spannungsfeldern. Weitere Schwerpunkte der Erzählungen bilden die Bedeutung der Pflegewissenschaft für die Weiterentwicklung einer professionellen pflegerischen Praxis, Erfahrungen mit berufspolitischer beziehungsweise gewerkschaftlicher Arbeit sowie die Auswirkungen des beruflichen Engagements auf das Privatleben. Ergänzt werden die Interviews jeweils durch tabellarische Lebensläufe mit Angaben zu Ausbildung, Beschäftigungsverhältnissen, Lehr- und Forschungsschwerpunkten, Politikberatung und weiteren Funktionen, die eine schnelle Orientierung zu Leben und Werk der zu Wort kommenden Personen erlauben.

In ihrer „Würdigung“ (S. 268 – 273) am Ende des zweiten Teils weist die Autorin darauf hin, dass alle Pflegepionierinnen hinsichtlich ihrer Qualifizierung – für die damalige Zeit eine Besonderheit – nach der Ausbildung ein Pflegestudium / eine akademische Qualifizierung im Ausland oder ein sozialwissenschaftliches Studium in Deutschland absolvierten und akademische Grade erwarben. Wörtlich hält sie hierzu weiter fest: „Sie waren aufgeschlossen gegenüber Veränderungen und bereit, Unsicherheiten, Anstrengungen, Entbehrungen und zum Teil erhebliche finanzielle Belastungen in Kauf zu nehmen. Mit pflegewissenschaftlichem Wissen und neu erworbenen Kompetenzen ausgestattet kehrten sie nach Deutschland zurück. Überwiegend als Einzelvertreterinnen eines neuen Denkens in der Pflege lösten sie hier innovative Aktivitäten und Projekte in der Pflegepraxis, in der Pflegebildung und im Pflegemanagement aus“ (S. 269).

Die Pflegepionierinnen hätten sich zu „Trägerinnen einer Modernisierung der Pflege“ entwickelt, wobei es ihnen gelungen sei, die historischen Wurzeln der Pflege im Auge behaltend, das Neue einzuleiten: „Sie stellten tradierte Rollenerwartungen des Pflegeberufs und die Abhängigkeit von der patriarchal geführten Medizin zunehmend infrage. Sie waren Trägerinnen eines neuen Selbstverständnisses, indem sie darauf hinwiesen, dass Pflege eigenständige Inhalte besitzt und nicht zentral aus medizinischen Krankheitssymptomen abgeleitet werden kann“ (S. 270). Der eigenständige therapeutische Beitrag der Pflege zur Versorgung kranker und pflegebedürftiger Menschen und ihrer Bezugspersonen sei damit in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Zentrale Bestandteile des Engagements der Pflegepionierinnen sei die Verbindung von Unterrichtstätigkeit in der Aus-, Fort- und Weiterbildung in den Pflegeberufen mit der Nähe zur beruflichen Praxis, Pflegewissenschaft und -forschung sowie Berufspolitik gewesen. Sie hätten ihre Lehr- und Leitungsfunktionen genutzt, um das neu gewonnene Pflegeverständnis in die Praxis hineinzutragen und die Qualität der pflegerischen Versorgung gemeinsam mit den Pflegenden zu verbessern, wobei sie Änderungen teils gegen Widerstände von Ärzt*innen und/oder Pflegenden durchsetzen mussten.

Ergänzt wird die Darstellung, die von den vorgestellten Pflegepionierinnen jeweils auch eine Portraitaufnahme in schwarz-weiß enthält, durch Literaturangaben (S. 275 – 282), wodurch eine Weiterbeschäftigung mit dem Thema leicht möglich ist.

Unterdessen wurde im Text auf einen Anmerkungsapparat weitgehend verzichtet. Weiterführende Hinweise finden sich lediglich zu Begriffsklärungen, wie beispielsweise zur FDJ (Freie Deutsche Jugend) oder zum SGB V (Sozialgesetzbuch V), einigen im Text erwähnten Personen der Zeitgeschichte, wie etwa Rudi Dutschke (1940 – 1979) und Klaus von Dohnanyi (*1928), sowie diversen Medizinern und Hochschullehrern, darunter Klaus Dörner (*1933) und Peter F. Matthiessen (1944 – 2019). Zu den erwähnten Pflegewissenschaftler*innen gibt es hingegen nur in Einzelfällen Anmerkungen, wobei diese sich auf Internetangaben und in einem Fall – einer bereits verstorbenen Person – auf das „Who is Who in der Pflege“ (Bern 1999) beschränken. Hier hätte man sich zu allen im Text erwähnten, für die Pflegewissenschaft relevanten Personen – namentlich Dirk Axmacher (1944 – 1992), Georg Evers (1950 – 2003), Antje Grauhan (1930 – 2010), Virginia Henderson (1897 – 1996), Agnes Karll (1868 – 1927), Olga von Lersner (1897 – 1978), Martha Meier (1930 – 2016), Martin Mendelsohn (1960 – 1930), Florence Nightingale (1820 – 1910), Adelaide Nutting (1858 – 1948), Dorothea Orem (1914 – 2007), Hildegard Peplau (1909 – 1999), Maria Pinding (1932 – 1990), Martha Rogers (1914 – 1994), Anna Sticker (1902 – 1995), Hilde Steppe (1947 – 1999), Johanna Taubert (1946 – 2008), Clementine von Wallmenich (1849 – 1908) und Otto Werner (1847 – 1923) – weiterführende Angaben auf das bisher im Umfang von neun Bänden vorliegende „Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte. Who was who in nursing history“ umso mehr gewünscht, als die historische Pflegeforschung in Deutschland nach wie vor ein Schattendasein führt und im Akademisierungsprozess der Pflege – ein entsprechender Lehrstuhl ist weiterhin nicht in Sicht – scheinbar vollkommen vergessen wurde.

Sieht man hiervon einmal ab, bietet das kurzweilig zu lesende Buch „Pflegepionierinnen in Deutschland“ einen überaus authentischen Einblick in die Anfänge der Pflegewissenschaft und damit einer akademischen Disziplin, die aus der heutigen Hochschullandschaft nicht mehr wegzudenken ist. Die Veröffentlichung von Ingeborg Löser-Priester ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung der Pflegewissenschaft, sondern auch – als zeithistorisches Ergo-Dokument – eine außerordentlich bedeutende Quelle für Pflegehistoriker*innen in späteren Zeiten.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling

Diakonissen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert

diakonissen der ostschweit im zwanzigsten jahrhundertRegula Schär
Diakonissen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert

TVZ Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2018, kartoniert, 290 Seiten, 54,00 €, ISBN 978-3-290-18144-4

Die ersten Diakonissenhäuser entstanden in der Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts in Bern, Riehen, Basel und Zürich. Wie andere kirchliche Institutionen verfolgten sie gemeinnützige Ziele, für die sich der Staat damals noch nicht zuständig fühlte. So entstanden mit den Diakonissenhäusern oftmals auch Spitäler, wodurch sich die Gesundheitsversorgung einer Region erheblich verbesserte. Frauen, die in die entsprechenden Einrichtungen eintraten, wurden in der Krankenpflege ausgebildet und danach schweizweit in Spitäler, die Gemeindekrankenpflege, in Altenheime und auch in Kindergärten entsandt. In der Ostschweiz engagierten sich im 20. Jahrhundert so noch zehn evangelische Schwesterngemeinschaften in zahlreichen sozialen Institutionen. In den Kantonen Appenzell Ausserrhoden, Thurgau und St. Gallen gab es dabei insgesamt 174 Arbeitsorte, sogenannte Außenstationen, für Diakonissen. Sie pflegten in Spitälern, in der Gemeindekrankenpflege und in Altersheimen Kranke und Betagte oder betreuten in Kindergärten Kinder, wobei die Arbeitgeber private, weltliche oder kirchliche Krankenpflegevereine waren. Der Alltag der Diakonissen, ihre Religiosität und ihre soziale Bedeutung, stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Studie von Regula Schär.

Für die Historikerin (Jahrgang 1972), die nach ihrem Studium in Bern in verschiedenen Archiven arbeitete und heute für eine Non-Profit-Organisation (NPO) in Bern tätig ist, war das Forschungsthema unterdessen nicht neu, verfasste sie doch bereits ihre (unveröffentlichte) Lizentiatsarbeit – unter der Überschrift „Der Wunsch Diakonisse zu werden schlummerte schon lange in mir“ – über „Die Diakonissen aus Riehen und ihr Mutterhaus von 1852 bis 1872“ (Bern 2008). Während sie dort den Zusammenhang zwischen der Eintrittsmotivation und der sozialen Herkunft Riehener Diakonissen während der Gründungszeit des Mutterhauses untersuchte, beleuchtet sie in der vorliegenden Arbeit mit einem kultur- und geschlechtergeschichtlichen Ansatz die religiösen Frauengemeinschaften im 20. Jahrhundert in der Ostschweiz, konkret die Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten in den evangelischen Schwesterngemeinschaften, die Kommunikationsstrukturen zwischen den Diakonissen und ihrem Mutterhaus sowie die diakonische Arbeit und das Netzwerk der Schwestern an ihren Arbeitsorten. Zudem richtet sie ihr Augenmerk auf den Wandel der traditionell in der Krankenpflege verankerten weiblichen Diakonie zu neuen Formen diakonischen Lebens.

Bei ihrer Untersuchung, die zwischen 2011 und 2014 im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts „Religiöse Frauengemeinschaften in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert“ entstanden ist, stützt die Autorin sich primär auf die Auswertung von Quellendokumenten – namentlich Protokolle, Jahresberichte, Korrespondenzen, Fotografien und Rundschreiben an die Schwesternschaften – aus zahlreichen Archiven der Diakonissenhäuser, die durch überlieferte Bestände in den Staats-, Gemeinde- und kirchlichen Archiven sowie persönliche Gespräche mit Diakonissen ihre Ergänzung finden.

Das knapp 300 Seiten starke Buch „Diakonissen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert“ gliedert sich – entsprechend dem Erkenntnisinteresse von Regula Schär – nach Vorwort (S. 9 – 10) und Einleitung (S. 11 – 27) in die folgenden vier Kapitel: 1. Identität und Frömmigkeit (S. 29 – 111), 2. Führungskonzepte, Kommunikations- und Konfliktstrukturen (S. 113 – 180), 3. Netzwerke (S. 181 – 209) und 4. Wandel (S. 211 – 253), die durch eine Schlussbetrachtung (S. 255 – 259) sowie ein Verzeichnis der Außenstationen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert (S. 261 – 26), ein Abkürzungsverzeichnis (S. 267), Bildnachweis (S. 268 – 270) und Bibliografie (S. 271 – 290) ergänzt werden.

Wie die Autorin im ersten Kapitel („Identität und Frömmigkeit“) zeigt, wurden die Diakonissen nach den Vorgaben der 1861 erlassenen Kaiserswerther Grundordnung ausgebildet. Die Schweizer Diakonissenhäuser hätten, wie auch die Häuser, die nicht zur Kaiserwerther Generalkonferenz gehörten, die Organisationsstrukturen des Diakonissenhauses Kaiserswerth übernommen. Dabei sei die Kaiserswerther Grundordnung, die Statuten, die Haus- und Dienstordnungen, die den dreifachen Dienstauftrag der Schwesternschaft reglementierten und normierten, bis Ende der 1960er Jahre nahezu unverändert geblieben. Die Diakonisse habe sich in der hierarchischen Struktur des Mutterhauses und in der Schwesternschaft eingeordnet: „Für den Dienst am Nächsten verzichtete sie auf weltliche und persönliche Bedürfnisse, um mit der vollkommenen Hingabe an Jesus Christus zu dienen. Der Verzicht auf weltliche Bedürfnisse manifestierte sich in ihrem Leben nach den evangelischen Räten und in der Kleidung.“ Die Tracht habe dabei eine mehrfache Symbolkraft gehabt: „Sie symbolisierte Bescheidenheit, sie war ein öffentliches Bekenntnis des Glaubens, sie war ein kollektives Zeichen einer Schwesternschaft und glich innerhalb der Schwesternschaft die Standes- und Altersunterschiede aus.“ Die Zeichen der Gemeinsamkeiten wie Lieder, religiöse Literatur, das Einsegnungsritual oder die Nachrufkultur hätten die Diakonissentugenden wie Selbstlosigkeit, Gehorsam, Barmherzigkeit und Geduld im kollektiven Gedächtnis von Generation zu Generation implementiert: „Die Diakonissen identifizierten sich in ihrem Beruf mit ihrer Berufung. Ihr Handeln, ihr Denken und ihr Dienstverständnis war religiös begründet und ein täglicher Gottes-Dienst. Diesen Dienst konnten sie nur in den Strukturen des Diakonissenhauses und der Schwesternschaft leben“ (S. 111).

Wie die Analyse der „Führungskonzepte, Kommunikations- und Konfliktstrukturen“ im zweiten Kapitel verdeutlicht, blieben die Diakonissen in den Ostschweizer Außenstationen „Kinder des Mutterhauses“, indem die Vorsteher und Oberschwestern der Diakonissenhäuser auch in den Außenstationen, außer bei ärztlichen Verordnungen oder anderen beruflichen Bestimmungen, die direkten Vorgesetzten der Schwestern blieben. Bei Konflikten hinsichtlich divergierender Erwartungshaltungen zwischen den Diakonissen und den Vertretern in den Außenstationen trat das Mutterhaus als Mediator auf. Die Diakonissenhäuser hätten dabei zwar die misslichen Arbeitssituationen der Diakonissen anerkannt und sie mit Worten unterstützt, nicht aber mit Taten. So habe etwa der Schwesternmangel immer wieder eine Verbesserung der Personalpolitik verhindert. Gerade wenn es darum ging, dass katholische Schwestern anstelle der Diakonissen eine Außenstation übernehmen sollten, seien die Diakonissen trotz den widrigsten Arbeitsbedingungen auf den Stationen belassen worden. Wenngleich die Diakonissen „gehorsam, demütig und selbstlos“ in der Ostschweiz arbeiteten, seien sie „keineswegs unmündig, unterwürfig und willenlos“ gewesen: „Im Alltag brachten sie ihren Standpunkt ein, sie organisierten ihre Arbeit selber, sie führten Spitalbetriebe, sie fuhren Velo [Fahrrad], Motorrad oder Auto, sie lebten alleine in einer Wohnung, sie versorgten Kinder in den Kleinkinderschulen, sie vertraten den reformierten Glauben in atheistischen Stuben und gegenüber katholischen Schwestern“ (S. 178).

Da die Diakonissen in der Ostschweiz in der Ortsgemeinde oder im Spital lebten, geht es im dritten Kapitel („Netzwerke“) um die Frage, welche diakonischen Arbeiten sie außerhalb ihrer Hauptarbeitsgebiete übernahmen, welches Beziehungsnetzwerk die Diakonissen zur Bevölkerung pflegten und ob sie akzeptierte Mitglieder der Gemeinde waren. Wie Regula Schär nachweist, waren die Diakonissen in der Ostschweiz mit ihrer Arbeit in das Gemeindeleben integriert und akzeptiert, wobei die gepflegten Beziehungen und ihr Netzwerk durch die Arbeit und ihr sozial-diakonisches Verständnis vorgegeben gewesen sei. Neben der Krankenpflege oder der Arbeit in Kindergärten und -schulen habe das Engagement bei mittellosen Bürgern oder die Generationenarbeit den Alltag geprägt. Da die Arbeit mit jungen Frauen das effektivste Mittel für die Nachwuchsrekrutierung war, hätten die Diakonissen dafür viel Zeit investiert. Eine Verbindung der Diakonissen zur Frauenbewegung konnte die Autorin in der Ostschweiz nicht nachweisen; innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung sei der Diakonissenberuf aber ein anerkannter Beruf gewesen. Insgesamt sei das Netzwerk, das die Diakonissen in der Ostschweiz pflegten, von ihrem Beruf geprägt gewesen: „Die Arbeit war ein 24-Stunden-Gottesdienst für den Nächsten. Daneben blieb wenig Zeit, die die Diakonissen für ihre Stärkung in christlicher Gemeinschaft mit Mitschwestern verbrachten“ (S. 209).

Über 130 Jahre lang, zwischen 1836 – dem Gründungsjahr der Diakonissenanstalt Kaiserswerth durch Theodor und Friederike Fliedner – bis Ende der 1960er Jahre, hielten die Diakonissenhäuser in einer veränderten Gesellschaft an ihren ursprünglichen Leitbildern und Arbeitsfeldern weltweit und in der Ostschweiz fest, bevor die Reorganisation der „Kaiserwerther Grundordnung“ 1971 zur „Kaiserwerther Rahmenordnung“ eine individuellere Entwicklung der einzelnen Diakonissengemeinschaften ermöglichte. Wie Regula Schär im vierten Kapitel („Wandel“) darlegt, wurde Ende der 1960er Jahre der Schwesternmangel in den Diakonissenhäusern akut, wobei ein Rückzug der Diakonissen aus den Außenstationen und die Konzentration der Arbeitskräfte in den Betrieben der Diakonissenhäuser die einzige gangbare Lösung war. Mit der steigenden Überalterung der Schwestern hätten die Diakonissenhäuser freies Personal engagieren oder die Betriebe verkaufen müssen: „Der Wandel in der Arbeitswelt hatte Auswirkungen auf die Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft der Schweizer Diakonissengemeinschaften. Nicht mehr die Arbeits-, sondern die Glaubensgemeinschaft, in der die Spiritualität und das Gemeinschaftsleben im Vordergrund standen, prägten das Leben der Schwesternschaften“ (S. 253). Am Dienstauftrag der Diakonisse habe diese Verschiebung, außer dass sie keine Ausbildung mehr als Krankenschwester erhielt, aber nichts geändert. Noch heute sei die Diakonisse eine Dienerin des Herrn, die um seinetwillen den Dienst am Nächsten tut – meist nicht mehr am Kranken, sondern an den Hilfesuchenden oder sozial Schwachen.

Aufgrund ihrer Untersuchung über das Wirken der Diakonissen bis Ende der 1960er Jahre in Ostschweizer Spitälern, der Gemeindekrankenpflege, Altersheimen und Kindergärten hält die Autorin in ihrer Schlussbetrachtung fest, dass die Diakonissen in der Bevölkerung „anerkannte Berufsfrauen und Seelsorgerinnen“ waren, deren Arbeitsalltag „von harter, erschöpfender Arbeit“ geprägt war. Überall habe Personalmangel geherrscht und gerade die Spitalbetriebe hätten nur durch die pausenlose Arbeit der Diakonissen aufrechterhalten werden können. Der gravierende Nachwuchsmangel, hervorgerufen durch die gesellschaftlichen Veränderungen, das neue Frauenbild und die beruflichen Möglichkeiten für Frauen der Nachkriegszeit, habe Ende der 1960er Jahre die Diakonissenhäuser zum Rückzug der Diakonissen aus der Ostschweiz und zum Wandel gezwungen. Die Diakonissenhäuser hätten sich dabei zu Kommunitäten gewandelt, „in denen die Schwesternschaft Trägerin ist, oder zu Diakoniewerken, in denen Stiftungen den diakonischen Auftrag im Sinne der Diakonissen weiterführen“ (S. 256).

Das Buch „Diakonissen in der Ostschweiz im 20. Jahrhundert“ wird durch 65 Schwarzweißabbildungen aus dem Leben und Arbeitsalltag der Diakonissen illustriert. Ihre Wiedergabe ist umso mehr zu begrüßen, als es an der Veröffentlichung entsprechender Darstellungen mangelt. Einige dieser pflegehistorisch interessanten Dokumente, insbesondere die Abbildungen auf den Seiten 116, 117, 120, 121 und 147, werden jedoch sehr klein wiedergegeben, wodurch ihr Aussagewert leidet.

Die Darstellung verfügt über einen soliden Anmerkungsapparat mit mehr als 700 Fußnoten, die neben Quellenbelegen immer wieder auch weiterführende Hinweise enthalten, wodurch einzelne Aspekte leicht vertiefend betrachtet werden können. Während dabei gelegentlich auch jede noch so kleine Aussage belegt wird, hätte man sich im Zusammenhang mit den in der Arbeit erwähnten beziehungsweise zitierten Personen – namentlich Trinette Bindschedler (1825 – 1879), Ruth Felgentreff (1924 – 2014), Caroline Fliedner (1811 – 1892), Friederike Fliedner (1800 – 1842), Theodor Fliedner (1800 – 1864), Elisabeth Fry (1780 – 1845), Louis Germond (1796 – 1968), Anna Herr (1863 – 1918), Franz Heinrich Härter (1797 – 1874), Florence Nightingale (1820 – 1910), Amalie Sieveking (1794 – 1859), Christian Friedrich Spittler (1782 – 1867), Anna Sticker (1902 – 1995) und Eva von Tiele-Winkler (1866 – 1930) – einen Hinweis auf das bisher im Umfang von neun Bänden vorliegende „Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte“ gewünscht.

Sieht man hiervon einmal ab, hat Regula Schär mit der vorliegenden Studie die jüngeren pflegehistorischen Forschungsarbeiten zur Rolle und dem Alltag der Diakonissen im Kontext der konfessionellen Krankenpflege bereichert. Im Hinblick auf das Untersuchungsgebiet ist ihre Darstellung umso bedeutender, als die Forschungslandschaft zu den Diakonissenhäusern und den Diakonissen in der Schweiz – abgesehen von Sammelbänden, in denen evangelische Ordensgemeinschaften ihre Geschichte und ihre Projekte im 21. Jahrhundert selber vorstellen – noch immer recht lückenhaft und heterogen ist.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling

Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Band 39

medizin gesellschaft geschichte band 39Marion Baschin (Hrsg.)
Medizin, Gesellschaft und Geschichte 
Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Band 39

Redaktion: Pierre Pfütsch, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021, broschiert, 313 Seiten, 48,20 €, ISBN 978-3-515-13124-7

Das vom Institut für Geschichte der Medizin (IGM) der Robert Bosch Stiftung (RBS) in Stuttgart herausgegebene Jahrbuch „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ (MedGG) bietet ein im deutschen Sprachraum einzigartiges Forum für interdisziplinäre Ansätze, deren gemeinsamer Kern das breite Spektrum einer Sozialgeschichte der Medizin ist, die auch alternative Heilweisen mit einschließt: Aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln werden darin historische Aspekte von Gesundheit und Krankheit beleuchtet. Dabei gibt die Reihe, zu der ergänzend – in derselben thematischen Diversität – die Beihefte mit Monographien und Sammelbänden erscheinen, über die Medizin-, Pharmazie- und Wissenschaftsgeschichte hinaus auch Beiträgen aus den Kulturwissenschaften und der Soziologie bis hin zur Kunstgeschichte Raum.

Nachdem der langjährige Institutsleiter des IGM, der Medizinhistoriker Prof. Dr. Dr. h.c. Robert Jütte, der den Aufbau und die Gestaltung der MedGG lange Jahre maßgeblich bestimmt hat, in den Ruhestand verabschiedet wurde, übernahm die Herausgeberschaft mit dem vorliegenden Band 39 (2021) Dr. phil. Marion Baschin, die nach ihrem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Stuttgart 2009/2010 mit der Arbeit „Wer lässt sich von einem Homöopathen behandeln? Die Patienten des Clemens Maria Franz von Bönninghausen (1785–1864)“1 promovierte. Anschließend bearbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des IGM der RBS verschiedene Drittmittelprojekte, absolvierte das Referendariat für den höheren Archivdienst am Landesarchiv Baden-Württemberg und an der Archivschule Marburg und übernahm schließlich – in der Nachfolge von Prof. Dr. Martin Dinges – im Juni 2020 die Leitung des IGM als Gesamtarchiv der Robert Bosch Stiftung und ihren Einrichtungen.

Die Redaktion von MedGG liegt unterdessen weiterhin in Händen des Historikers Dr. phil. Pierre Pfütsch, zu dessen Forschungsschwerpunkten die Präventions- und Geschlechtergeschichte, die Zeitgeschichte der Medizin sowie die Geschichte medizinischer Berufe gehören. Hierzu veröffentlichte er unter anderem (zusammen mit Sylvelyn Hähner-Rombach) den Band „Entwicklungen in der Krankenpflege und in anderen Gesundheitsberufen nach 1945. Ein Lehr- und Studienbuch“ (Frankfurt am Main 2018)2 und gab 2020 (gemeinsam mit Annett Büttner) den Band „Geschichte chirurgischer Assistenzberufe von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart“ (Frankfurt am Main 2020) heraus.3

In ihrem Editorial weist Marion Baschin darauf hin, dass Robert Bosch (1861 – 1942) seine privaten finanziellen Mittel und Interessen in vielen, auch unterschiedlichen Themenbereichen gewinnbringend für die Gesellschaft einsetzte. Gleichwohl habe sein Engagement ganz besonders der Medizin und Gesundheitsfragen gegolten, wobei er sich für eine Verbindung verschiedener therapeutischer Ansätze ausgesprochen habe. Diesem Interesse sei das IGM besonders verpflichtet. Zur Bedeutung und Intention der aktuellen Ausgabe des Jahrbuchs hält sie sodann wörtlich fest: „Mit den Schlagworten ‚Medizin, Gesellschaft und Geschichte‘ kann das Erbe Boschs in historischer Perspektive abgebildet werden. Die vorgestellten Beiträge stehen daher für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Robert Boschs und zeigen deren Relevanz für aktuelle Fragen“ (S. 7).

Das Jahrbuch gliedert sich traditionell in zwei Teile. Die Beiträge im ersten Teil („Zur Sozialgeschichte der Medizin“) konzentrieren sich auf die jüngere Geschichte, wobei vier von ihnen aus Forschungsprojekten stammen, die das IGM bis 2020 förderte: Nina Grabe untersucht die Geschichte jüdischer Altersheime in der Nachkriegszeit in Westdeutschland (S. 11 – 56); Martin Dinges betrachtet den Zusammenhang von Arbeit auf die Lebenserwartung von Männern (S. 57 – 92); Sebastian Wenger beleuchtet den Umgang mit gehörlosen Jugendlichen in der Gewerblichen Berufsschule für Gehörlose der Paulinenpflege Winnenden von 1945 bis 1980 (S. 93 – 126); Christine Hartig analysiert Medikamentenversuche in Niedersachsen in den 1950er bis 1970er Jahren (S. 127 – 168); Timo Bonengel erörtert die Entwicklung von Suchttherapien in den USA von 1915 bis 1980 (S. 169 – 207) und Karl-Heinz Reuband befasst sich mit dem Verhalten der Bevölkerung während der EHEC-Pandemie von 2011 (S. 209 – 238).

Die ausführliche Vorstellung aller Beiträge würde den Rahmen der vorliegenden Besprechung sprengen. Von daher sei hier lediglich, da er für die Leserschaft der „Geschichte der Gesundheitsberufe“ von besonderem Interesse sein dürfte, auf den Beitrag von Nina Grabe „Jüdische Altersheime in Westdeutschland“ näher eingegangen.

Die Autorin, die bereits unter anderem die Studien „Die stationäre Versorgung alter Menschen in Niedersachsen 1945 – 1975“ (Stuttgart 2016)4 und „Die stationäre Versorgung älterer Displaced Persons und ‚heimatloser Ausländer‘ in Westdeutschland“ (Stuttgart 2020) veröffentlichte, bietet anhand der exemplarisch ausgewählten, 1948 beziehungsweise 1953 eröffneten Häuser in Essen-Werden und Hannover einen Überblick über die Lage der nach Kriegsende in Westdeutschland eingerichteten jüdischen Altersheime. Dabei geht sie unter anderem der Frage nach, welche Gruppe der überlebenden Juden in diesen Heimen Aufnahme fand, aus welchem Grund diese Menschen freiwillig in Deutschland verblieben, wie die gesundheitliche Situation der alten Menschen und das Heimmilieu aussahen und inwieweit sich der Alltag in einer jüdischen beziehungsweise von NS-Opfern bewohnten Einrichtung von demjenigen in anderen deutschen Altersheimen unterschied. Der Beitrag ist dabei umso bedeutender, als sich die Veröffentlichungen zur Geschichte der jüdischen Kranken- und Altenpflege vorwiegend auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945) beschränken und die stationäre Versorgung der nach 1945 in Westdeutschland lebenden älteren Juden bislang mit Ausnahme regionaler Forschungsprojekte nur wenig Beachtung fand.

Wie Nina Grabe zeigt, handelte es sich bei den Bewohnern der in ihrer Studie untersuchten jüdischen Heime ausschließlich um Juden deutscher Herkunft, darunter die Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager sowie Personen, die im Untergrund beziehungsweise in einem Versteck ihrer Ermordung entgangen waren. Hinzu seien „Rückwanderer“ gekommen, also aus dem Exil zurückkehrende Juden, die ihre Deportation durch eine frühzeitige Flucht ins Ausland verhindert hatten, die Mitte der 1950er Jahre in vielen jüdischen Altersheimen sogar den Großteil der Bewohner stellten. Die meisten jüdischen Überlebenden hätten unter körperlichen und psychischen Beschwerden gelitten, die nicht nur auf ihr hohes Lebensalter zurückzuführen waren, sondern auch im Zusammenhang mit ihrer Verfolgungsgeschichte beziehungsweise ihrer Lagerhaft standen.

Der pflegerische Alltag in den jüdischen Altersheimen unterlag – wie in den christlichen Häusern, so die Autorin, einer mehr oder weniger starken religiösen Prägung, je nachdem, ob es sich um ein liberal oder ein streng rituell geführtes Haus handelte. Selbst wenn eine hohe Anzahl von Altersheimen keine pflegebedürftigen alten Menschen aufnahm, hätten sie nur selten auf krankenpflegerisch ausgebildetes Personal verzichtet. Obwohl sich die Anwerbung von Pflegepersonal innerhalb des gesamten Untersuchungszeitraums als extrem schwierig gestaltete, hätten die Heime in Hannover und Essen-Werden mindestens eine qualifizierte Pflegerin beschäftigt, bei der es sich fast immer um eine examinierte und zumeist jüdische Krankenschwester handelte: „Gemäß der jüdischen Pflegeethik, die sich in ihren Grundzügen nur wenig von der christlichen Pflegetradition unterschied, wurde die pflegerische Betreuung ausschließlich von weiblichem Personal übernommen. Die wenigen männlichen Mitarbeiter waren v. a. als Hausmeister, in der Verwaltung sowie in den Heimvorständen tätig“ (S. 49).

Der zweite Teil („Zur Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen“) vereint drei Beiträge zur Geschichte komplementärer Heilweisen und des Pluralismus in der Medizin: Motzi Eklöf beschreibt die Geschichte des von Per Olof Zetterling gestifteten Legats, um Vorlesungen über die Homöopathie an der Universität von Uppsala zu fördern (S. 241 – 262); Alice Kuzniar verdeutlicht die Verbindung zwischen Literatur und Homöopathie, indem sie den Einfluss von Clemens von Bönninghausen’s Methodik auf die Gedichte Annette von Droste-Hülshoffs analysiert (S. 263 – 289) und Andreas Weigl untersucht die Nutzung und Akzeptanz von Komplementärmedizin anhand der Meinungsforschung in den Jahren von 1970 bis 2010 (S. 291 – 313).

Mit der vorliegenden Ausgabe ist es dem Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung wiederum gelungen, ein lesenswertes Jahrbuch vorzulegen. Sicherlich werden es – über den Wissenschaftsdiskurs hinaus – alle gerne zur Hand nehmen, die sich für die Sozialgeschichte der Medizin sowie die Geschichte der Homöopathie und alternativer Heilweisen interessieren.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling


 1 Vgl. die Besprechung des Rezensenten unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/10740.php [04.02.2011].

2 Vgl. die Besprechung des Rezensenten in: Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 7. Jg., Ausgabe 2-2018, S. 93 – 95; auch online unter: https://www.pflege-wissenschaft.info/nachrichten/rubriken/rezensionen//nachrichten/rubriken/rezensionen/81-pflegejournal/journal-info/rezensionen/11987-entwicklungen-in-der-krankenpflege-und-in-anderen-gesundheitsberufen-nach-1945 [16.10.2018].

3 Vgl. die Besprechung des Rezensenten in: Geschichte der Gesundheitsberufe. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 10. Jg., Ausgabe 2-2021, S. 92 – 94; auch online unter: https://www.zeitschrift-pflegewissenschaft.de/content/nachrichten/datenbanken/rezensionen

4 Vgl. die Besprechung des Rezensenten in: Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe, 6. Jg., Ausgabe 1-2017, S. 58 – 60; auch online unter: https://www.zeitschrift-pflegewissenschaft.de/content/nachrichten/datenbanken/rezensionen