Pathologisch-Anatomisches Cabinet |
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Medizinhistorisch hat Berlin, das auf eine rund 400jährige medizinische Tradition zurückblicken kann, Unvergleichliches zu bieten. Im 19. Jahrhundert hatte sich die Stadt zu einem Weltzentrum der Krankenversorgung, der medizinischen Lehre und Forschung, der Medizintechnik und der pharmazeutischen Industrie entwickelt. Die Reihe der Ärzte, Naturwissenschaftler, Techniker, Forscher, Unternehmer und Erfinder, die in und von Berlin aus weltweite Medizingeschichte schrieben, ist schier unendlich. Stellvertretend seien nur etwa die Namen Emil von Behring, Johann Friedrich Dieffenbach, Paul Ehrlich, Robert Koch und Ferdinand Sauerbruch genannt. Einen Markstein in der Entwicklung stellte die Gründung der Charité im Jahre 1710 dar: hier arbeiteten die bedeutendsten Ärzte Deutschlands, hier war das Zentrum der Forschung, hier entstanden schon im 18. Jahrhundert anatomische Sammlungen, und hier eröffnete der Nestor der deutschen Pathologie, Rudolf Virchow (1821-1902), im Jahre 1899 sein Pathologisches Museum mit weltweit einzigartigen pathologisch-anatomischen Präparaten.
Mit ihrem Buch "Pathologisch-Anatomisches Cabinett" verfolgen Peter Krietsch und Manfred Dietel, wie es bereits aus dem Untertitel "Vom Virchow-Museum zum Berliner Medizinhistorischen Museum in der Charité" ersichtlich ist, gleich mehrere Ziele. Zunächst dokumentieren sie das wechselvolle Schicksal der früher "Cabinett" genannten Sammlungen, erzählen die dramatischen Geschichten einiger erhalten gebliebener Exponate und plädieren schließlich engagiert dafür, dass Berlin auch medizingeschichtlich wieder Hauptstadt wird durch ein "Berliner Medizinhistorisches Museum".
Am 27. Juni 1899 konnte Rudolf Virchow das neue Pathologische Museum der Charité Berlin feierlich eröffnen. Es war damals das größte je für diesen Zweck errichte Gebäude und beherbergte mit mehr als 23.500 Präparaten die umfangreichste und wertvollste pathologisch-anatomische Sammlung der Welt. Im ersten von insgesamt zwölf Kapitel ("Virchows großer Tag") berichten die Autoren von der Entstehung des Museums, den Aufbewahrungs- und Konservierungsmethoden, dem Konzept des damaligen Museums und von einem Rundgang (Museumsführung) im Jahre 1901. Im zweiten Kapitel ("Die Anfänge im Zeichen der Cholera") stellen sie die verschiedenen Leiter der Pathologie vor und geben einen anschaulichen Überblick über die Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, pathologisch-anatomische Präparate für Lehr- und Weiterbildungszwecke aufzustellen. Während das dritte Kapitel ("Der Soldatenkönig und die Anatomie") die Anfänge der Anatomie in Berlin beschreibt, steht im Mittelpunkt des vierten Kapitels die "Rivalität zwischen Charité und Universität". Unter der Überschrift "Der neue Herr des ´Pathologisch-anatomischen Cabinets´" skizziert das fünfte Kapitel den Lebensweg von Virchow und dessen Nachfolgern. Im sechsten Kapitel, das den treffenden Titel trägt "Kein Tag ohne Präparat", geht es vor allem um Virchows Sammlungstätigkeit, insbesondere auf pathologischem Gebiet, und um damit im Zusammenhang stehende Ereignisse. Das siebte Kapitel ("Weiterführung und Untergang") beschreibt die Entwicklung vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu den Jahren 1943/44, in denen das Museumsgebäude mehrfach von Bomben und Luftminen getroffen wurde. Wie Peter Krietsch und Manfred Dietel betonen, war es ihnen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich, auf die einzelnen Präparatekomplexe der Sammlung einzugehen. Im achten Kapitel ("Monstra und Missgeburten") betrachten sie einen jedoch aufgrund seiner wissenschaftlichen, historischen und mythologischen Bedeutung genauer: die in der Virchow-Sammlung enthaltene Spezialkollektion menschlicher und tierischer Fehlbildungen. Im neunten Kapitel ("Die Fehlbildungssammlung an der Berliner Universität") geht es vor allem um die Schlüsselrolle der Hebammen, um diverse Anweisungen der Regierung zur Abgabe von Missbildungen sowie um zeitgenössische Transportvorschriften und die damit zusammenhängenden Probleme. Während im Zentrum des zehnten Kapitels "Mikrozephale Brüder und ein Kriminalfall" stehen, stellt das elfte Kapitel "Die ältesten Präparate und ihre Geschichte" dar. Das zwölfte Kapitel beschäftigt sich schließlich mit dem "Schicksal der Sammlung nach 1945". Wie die Autoren hierbei berichten, hat die Schausammlung heute alljährlich mehre Tausend Besucher aus dem Inland und Gäste aus aller Welt. Ihres Erachtens verkörpert die Sammlung mit ihrem über 260jährigen Werdegang "ein Stück Kulturgeschichte der Menschheit": "Wir können Krankheitsbilder studieren, die glücklicherweise Geschichte sind, aus denen sich aber - wie aus der Geschichte überhaupt - auch heute noch lernen lässt" (S. 155).
Unter dem Hinweis, dass Berlin ein museales Weltzentrum sei, wo es - mit Ausnahme der Medizingeschichte - Museen für nahezu alles gibt, plädieren Peter Krietsch und Manfred Dietel eindringlich für ein "Berliner Medizinisches Museum". Inhaltlich sollte dabei das gesamte Spektrum der Medizingeschichte von der wohl ältesten Disziplin, der Naturheilkunde, über die Anatomie, die Herzchirurgie bis zur Zahnheilkunde umfassen und den Blick sowohl in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werfen: "Der Besucher sollte auch modernste Entwicklungen wie Gentechnologie und Molekularpathologie kennen lernen, einen Blick in die Zukunft werfen können und Medizin erleben" (S. 161).
Ergänzt wird die Darstellung durch einen Anhang (S. 165-173), der eine Literaturauswahl, ein Quellenverzeichnis und ein kombiniertes Sachwort- und Personenverzeichnis über Personen, Orte, Buch- und Zeitschriftentitel, Krankheiten und Missbildungen, bemerkenswerte Präparate und Ereignisse enthält. Die Bedeutung des durchgängig reich mit Farbphotos illustrierten Buches liegt, entsprechend den selbst gesteckten Zielen seiner Autoren, auf verschiedenen Ebenen. Einerseits möchte es zeigen, dass der Grundstock für ein Berliner Medizinhistorisches Museum gelegt ist, was zweifelsohne voll gelungen ist. Anderseits gewährt es einem breiten Publikum einen in der Art bis dahin nicht möglichen Blick in einen hochinteressanten Teil der (Berliner) Medizingeschichte. In jedem Fall werden von der Veröffentlichung, deren Texte zahlreiche ausführliche Zitate zeitgenössischer Beschreibungen enthalten, alle medizingeschichtlich Interessierten begeistert sein.