Ethik in der Pflege |
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Das von Lay vorgelegte Lehrbuch befasst sich mit Ethik in der Pflege im Rahmen der vier Pflege-felder:
- Pflegepraxis
- Pflegemanagement
- Pflegepädagogik und
- Pflegewissenschaft.
- "einen Überblick über die gegenwärtige Diskussion um ethische Reflexion in der Disziplin" zu geben und
- zu begründen, "warum ethischer Reflexion eine zentrale Stellung in der Pflege von Menschen zukommen sollte (Hauptthese)."(11).
Kapitel 2 beschäftigt sich mit einer Einführung in die allgemeine Ethik. Begriffsklärungen, Ziele, Aufgaben und Funktionen von Ethik werden beschrieben und in Kürze ethische Theorien und Positionen aufgezeigt. Einen größeren Umfang im Rahmen der Werte nimmt die Unterscheidung zwischen sittlichen und vorsittlichen Gütern und Übeln ein, wohl deshalb, weil der Autor später ein Entscheidungsmodell auf Grundlage dieser Unterscheidung aufzeigt. Wie schwierig dieses Unterfangen im Konkreten ist, zeigt sich darin, dass der Autor in Anlehnung an Gillen die Selbstbestimmung (Autonomie) als der Verwirklichung des vorsittlichen Gutes Freiheit selbst auch zu den vorsittlichen Gütern zählt, was m.E. diskussionswürdig wäre. Einen guten Überblick gibt sein Modell zur Klassifikation von Werten und Normen (25).
In Kapitel 3 wird der Begriff der Bereichsethik reflektiert und es erfolgt eine Zuordnung der Ethik in der Pflege zwischen Ethik in der Medizin und Ethik der Sozialen Arbeit. Lay grenzt sich ab von der Idee, Ethik in der Pflege als Teil einer Ethik im Gesundheitswesen einzugliedern, da speziell ambulante Pflege und Altenpflege nicht nur dem Gesundheitswesen, sondern auch dem Sozialwesen zuzuordnen seien. Insofern schlägt er mit überzeugenden Argumenten vor, das gemeinsame Dach "Ethik im Gesundheits- und Sozialwesen" zu nennen und darunter gleichberechtigt die verschiedenen Bereichsethiken (Medizin, Pflege, soziale Arbeit, weitere Berufsgruppen) zu subsumieren. Damit weist er den dominanten Anspruch vieler Medizinethiker zurück, die ethische Fragen im Gesundheitswesen generell einer Arztethik unterordnen.
Das nächste Kapitel widmet sich (im Anschluss an Weidners Systematik) den von Lay postulierten vier Feldern einer Ethik in der Pflege mit dem Schwerpunkt Pflegeethik als der "Reflexion moralischer Aspekte der Pflegepraxis" (76). Letztere soll auch die Laienpflege mit einbeziehen, was ich für wenig praktikabel erachte und m. E. einer weit verbreiteten Neigung unter Pflegenden entspricht, Grenzen nicht positiv zu vertreten, sondern durch Überdehnung unsichtbar zu machen.
Problematisch sind Aussagen wie: Ethik sei "keine exakte Wissenschaft"(64) - ein längst widerlegtes Vorurteil aus den sog. "exakten" Naturwissenschaften - bzw. "Ethik sei wie die Pflege nicht einheitlich definiert" (65), was ebenso vereinfachend wie falsch ist. Die philosophische Disziplin Ethik ist als wissenschaftliche Reflexion der Moral klar definiert. Genau dieser Aspekt der Wissenschaftlichkeit kommt mir bei Lay zu kurz (obwohl er sich selbst streng daran hält). Moralische Aspekte lassen sich vielfältig reflektieren; will die Pflegeethik als eigenständige Disziplin aber ernst genommen werden, muss sie sich an wissenschaftliche Standards wie klar definierte Begrifflichkeiten, logische Konsistenz, Einhaltung des Nicht-Widerspruchs-Prinzips etc. halten. So teile ich die Ansicht, dass beruflich Pflegende sich ernsthaft mit moralischen Fragen in der Pflege auseinander setzen sollen (wie ich das z.B. auch von Ärzten erwarte), schon um das moralische Handeln zu fördern. Ohne die entsprechenden philosophisch-wissenschaftlichen Grundlagen sollte dies aber nicht als "Ethik" verkauft werden. Ansonsten liest sich das Kapitel als leidenschaftliches Plädoyer für eine eigenständige Bereichsethik Pflege, die sich wirksam von anderen Bereichsethiken abgrenzt. Als grundlegende materiale Prinzipien nennt Lay in Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten: Förderung von Wohlergehen/Wohlbefinden, von Autonomie/Selbstständigkeit, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, dialogische Verständigung. (102)
Kapitel 5 beleuchtet den inneren Zusammenhang von Pflegequalität und Ethik bzw. zeigt auf, dass Qualitätsmanagement ohne Berücksichtigung ethischer Prinzipien (z.B. Achtung der Menschenwürde) mit Qualität (als etwas positiv Gewünschtem) nicht wirklich etwas zu tun haben kann. Ähnlich die vielfach verbreiteten und angewandten Pflegemodelle. Auch hier sticht Lays Kritik, dass diese in der Regel weder das zu Grunde liegende Menschenbild noch sonstige moralische Implikationen reflektieren. Aus diesem Grund entwickelt der Autor in Kapitel 6 sein "Modell der Gesundheitspflege", in dessen Zentrum die Pflegeethik als "die zentrale Komponente der Pflegequalität" (129) steht. Darum gruppiert sind die Hauptkomponenten "Wirksamkeit (Selbstständigkeit und Wohlbefinden), Sicherheit (Sicherheitsbestimmungen und Hygiene), Wirtschaftlichkeit (Zeit und Material)" sowie die ermöglichende "Interaktion". In diesem Zusammenhang entwickelt Lay auch einen eigenen Gesundheits- und Pflegebegriff. Gesundheit definiert er "als eine zufrieden stellende Entfaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden in den Aktivitäten des Lebens" (140) und Pflege entsprechend dazu als "gezielte Interaktion zur Förderung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden in den AL" (144). Ohne es hier im Einzelnen würdigen zu können, scheinen mir sowohl das Modell als auch die von ihm entwickelten Definitionen zu Gesundheit und Pflege ausgesprochen diskussionswürdige Ansätze für professionelle Pflege zu bieten. Allerdings schiene es mir praktikabler und auch sinnvoller, wenn als zentrale Komponente nicht "Pflegeethik" (als wissenschaftliche Reflexion pflegerischen Handelns), sondern ethische Prinzipien (anhand derer die Reflexion erfolgt) stünden.
Kapitel 7 behandelt konkrete Möglichkeiten ethischer Entscheidungsfindung. Lay stellt zunächst verschiedene Entscheidungsmodelle bzw. -schemata vor und orientiert sich selbst am "Modell der konvergierenden ethischen Argumentation" (168) nach Gillen, das er anhand eines konkreten Falles darstellt. Schwerpunkte dieses Modells sind die Einteilung in vorsittliche und sittliche Güter und Übel, deren Hierarchisierung sowie diverse Argumentationsfiguren. Mir scheint dieses Modell für die pflegerische Praxis zu aufwändig, für die argumentative Schulung in Aus- bzw. Weiterbildungssituationen könnte es dagegen hilfreich sein.
Im letzten Kapitel behandelt der Autor seine eigentliche Domäne, die Pflegepädagogik und ihre ethischen Implikationen. Dabei beschäftigt ihn folgende Leitfrage: "Wie sind moralisch vertretbares Handeln und ethische Reflexion im Rahmen von Pflegebildung auf eine moralisch vertretbare Art und Weise zu lernen und zu lehren?" (197) Zunächst beschäftigt sich Lay mit der verbreiteten konstruktivistisch-systemtheoretischen Didaktik und kommt zu dem Schluss, dass diese beziehungsarme Didaktik aus ethischer Perspektive nicht zu rechtfertigen sei. Er präferiert dagegen die "handlungsorientierte Didaktik" (212), deren konzeptionelle Ziele der Selbst- und Mitbestimmung, Teilnehmeraktivität und Praxisrelevanz zentralen ethischen Prinzipien entsprächen. Anschließend werden verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, wie ethische Argumentationsfähigkeit und moralische Urteilskraft gelehrt und gelernt werden können.
Lays Lehrbuch besticht durch seine Übersichtlichkeit sowie einer detaillierten und nachvollziehbaren Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten von Ethik in der Pflege und ihrer Zuordnungen. Alle Kapitel können - bei allem Zusammenhang - unabhängig voneinander gelesen werden, weil sie in sich abgeschlossen dargestellt werden. Sein Ansatz, Ethik als zentrales Element pflegerischer Qualität einzuführen und damit verbunden eine realistischere Definition von Gesundheit und Pflege zu entwickeln, scheint mir einigermaßen überzeugend gelungen, wenn er auch im Detail noch diskutiert werden muss. Zuzustimmen ist Lay ebenfalls in dem Anliegen, dass alle beruflich Pflegenden moralisch-ethische Kompetenzen erwerben sollten. Ärgerlich, überflüssig und abzulehnen ist dagegen die - gegen "Nur"-Philosophinnen gerichtete Aussage - "... können nur Fachleute aus der Pflege beurteilen, ob sich ein ethisches Modell ... in die Vorstellungs- und Arbeitswelt der Pflegekräfte einfügen lässt". (263) Schließlich bezieht sich die Arbeitswelt der Pflegenden auf pflegebedürftige Menschen - und in deren Welt müssen ethische Maximen passen.
Ein besonderes Kompliment gilt der intensiven Auseinandersetzung mit der nahezu der gesamten aktuellen Literatur zum Themenbereich Ethik in der Pflege. Allein dafür würde sich der Erwerb des Buches bereits lohnen.