Das Ende der Egomanie |
![]() |
Dreiundzwanzig Jahre nach der Beschreibung des "Gotteskomplexes", das heißt der Entstehung und krisenhaften Zuspitzung des "Glaubens an die Allmacht des Menschen", steht erneut dieses Thema im Mittelpunkt eines Buches von Horst-Eberhard Richter. Ging es Richter damals vornehmlich darum, die historische Herausbildung eines ihm aus der psychoanalytischen Praxis vertrauten Allmachtglaubens und dessen Kehrseite, die Unfähigkeit, eigene Schwäche eingestehen und Leiden akzeptieren zu können, mit einem kursorischen Gang durch die neuzeitliche Geistesgeschichte nachzuzeichnen, so liegt in der vorliegenden Veröffentlichung der Schwerpunkt auf der Beschreibung gegenläufiger Tendenzen und der Suche nach Belegen dafür, dass die Vorherrschaft dieser "Egomanie" allmählich im Schwinden beg-riffen ist.
Der neuzeitliche Mensch scheiterte, wie Richter im "Gotteskomplex" belegt, bei dem Versuch, die Ohnmacht der mittelalterlichen Abhängigkeit vom unerforschlichen Ratschluss Got-tes durch eine realistische Selbsteinschätzung zu ersetzen. Anstatt über die eigenen Kräfte nüchtern zu reflektieren, entwickelte der neuzeitliche Mensch beim Ausgang aus seiner Passivität ausgeprägten Größenwahn. Von Descartes über Nietzsche bis zur Technikgläubigkeit des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts lässt sich ein Egozentrismus beschreibend nachvollziehen, der von einer Unfähigkeit begleitet ist, die menschliche Verletzbarkeit und Endlichkeit anzuerkennen. Aus psychoanalytischer Sicht erweist sich der "lange Zeit als großartige Selbstbefreiung gepriesene Schritt des mittelalterlichen Menschen in die Neuzeit" als eine "neurotische Flucht narzißtischer Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht". Dieser Allmachtglaube, der lange Zeit die moderne Gesellschaft fast vollständig beherrschte, wurde nicht nur in seinen offenkundigen destruktiven Tendenzen, das heißt im zunehmenden militärischen Zerstörungspotential und im Raubbau an der Biosphäre, offenkundig, sondern auch - und damit für Richter besonders offensichtlich - in psychischen Erkrankungen, die als nicht mehr zu vermeidender pathologischer Ausdruck des Zwiespaltes zwischen einer überzogenen Selbsteinschätzung und einer deprimierenden Realität zu verstehen sind.
In seinem neuen Buch sucht Richter nun nach Ansätzen in der Geistesgeschichte, die als Grundlage für eine Umorientierung auf ein selbstkritisches, mitfühlendes und solidarisches Menschsein dienen können. Aus der Vielzahl der Namen, die Richter aus der psychologischen und philosophischen Literatur zur Erörterung seiner Fragestellung heranzieht, mag hier vor allem Martin Buber genannt sein, der Philosoph der "sozialen Humanität". Im Zentrum der Phi-losophie Bubers steht die Einsicht, dass der Mensch "am Du zum Ich" wird, ein Ansatz, der für Richter wie kein anderer in einer Krisenzeit geeignet ist, dem Individuum Halt zu geben, das bereits an seiner Allmacht zu zweifeln begonnen hat, aber noch nicht zum Aufbau solidarischer Bindungen in der Lage ist.
Es macht die Stärke dieses Buches aus, dass hier nicht nur ein Ende der Egomanie eingefordert wird, sondern auch empirische Belege geliefert werden, die auf eine Trendwende hindeuten. Zwar herrscht, wie Richter kritisiert, bei der einzig noch verbliebenen Großmacht auch nach dem 11. September noch immer die Vorstellung vor, durch eine energische Bekämpfung aller Schurkenstaaten ließen sich alle Weltprobleme im Alleingang lösen; und im Bereich der Gentechnologie, so Richter, manifestiert sich das Gott-spielen-Wollen des Menschen auf besonders eklatante Weise, doch lassen sich im sogenannten Gießen-Test, der die soziale Einstellung der Bundesbürger untersucht, bemerkenswerte Veränderungen erkennen. Während in den Jahren 1975 bis 1989 eine Zunahme von Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen und eine vermehrte Konzentration auf das Ego festzustellen war, fand sich 1994 erstmals eine Trübung der Grundstimmung, die wohl darauf hindeutete, dass die ursprüngliche Selbstgewissheit bei vielen Befragten geschwunden war. Zur Milleniumswende wiesen die durchschnittlichen Selbstbilder wieder mehr Gefühle, mehr Bindungsbedürfnisse und verstärkte soziale Anteilnahme auf. Insgesamt lässt sich diese Wandlung folgendermaßen charakterisieren: "Die unbekümmerte Unverbindlichkeit weicht. Verantwortungsbereitschaft wächst. Man will sich in langfristigen Bindungen bewähren, Ordnung schaffen, verlässlich sein." Dieser Befund widerlegt Richard Sennetts Befürchtung, der "flexible Mensch" des globalisierten Kapitalismus gleiche sich psychisch allmählich der Unberechenbarkeit und Unstetigkeit der ökonomischen Strukturen an.
Wie bei Richter nicht anders zu erwarten, endet das Buch nicht mit der nüchternen wissen-schaftlichen Feststellung einer Trendwende, sondern mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für soziales Engagement, konkret für Stärkung der globalisierungskritischen Bewegung "attac", für die sich der auch im inzwischen fortgeschrittenen Alter noch unermüdlich publizistisch und sozial aktive Richter einsetzt.