Ein ganz besonderer Saft - Urin (Thomas, Carmen)Verlag vgs, Köln, 1995, 26.Aufl. , 15,50 € - ISBN 3-8025-1268-5Rezension von: Dr. Hubert Kolling |
![]() |
Zwar gilt bis heute das von Johann Wolfgang von Goethe in seiner "Faust"-Dichtung eingeführte geflügelte Wort "Blut ist ein ganz besonderer Saft", doch hat auch noch eine andere Körperflüssigkeit, der Urin, in der Vergangenheit und bis in unsere Tage hinein das Interesse sowohl der medizinischen Wissenschaft als auch der Laien immer wieder geweckt. Jeder, der sich allerdings mit Urin noch nicht eingehender befasst hat, begegnet dem von Carmen Thomas im Kölner vgs-Verlag erschienenen Buch "Ein ganz besonderer Saft" ebenso erstaunt, vielleicht auch angeekelt, wie amüsant oder bewundernd. Bereits ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis offeriert Anwendungen, die einem - nicht nur im ersten Moment - die Haare zu Berge stehen lassen und kaum zu Glauben sind. Wer allerdings seine Hemmschwelle überwunden hat und anfängt, das Buch in die Hand zu nehmen, darin zu blättern und zu lesen, wird es bald nicht mehr aus der Hand legen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Autorin mit diesem Thema, das in unserer Gesellschaft stark mit Scham besetzt ist und daher weitgehend tabuisiert wird, recht unbefangen umgeht. Zunächst gibt Carmen Thomas einen kurzen Abriss zur Geschichte der Urologie sowie allgemeine Erläuterungen zur Blase und Entstehung des Harns, bevor sie dann überleitet zum eigentlichen Grund ihrer Veröffentlichung - eine aufsehenerregende Radiosendung im Westdeutschen Rundfunk (WDR) von knapp drei Stunden, die im nordrhein-westfälischen Städtchen Bad Münstereifel ausgestrahlt wurde. Das gesamte Protokoll dieser Sendung ist in diesem Buch festgehalten. Insofern handelt es sich nicht um ein wissenschaftliches Werk, als vielmehr um die Geschichte einer Sendung und die darauf erfolgten Reaktionen von Hörerinnen und Hörern, die ihre mit Urin gemachten Erfahrungen weitergeben. Die Autorin hat diese zusammengefasst und erläutert die facettenreiche und faszinierende Verwendung des Harns. Angefangen bei Urin als Färbemittel, als Gesichtswasser gegen hartnäckige Pickel bis hin zu Halsschmerzen, die nach ein paar Stunden wiederholter Benutzung von frischem Urin weggegurgelt waren. Da ist auch die Rede von Warzen, die sich zwei Jahre jeder Behandlung widersetzten und dann nach zehn Tagen - nach der Behandlung mit Urin - für immer verschwanden. Oder von Athrose, die scheinbar durch Einreibungen mit Urin gelindert wird. Ferner von Wunden, die mehrmals täglich mit Urin betupft wurden und wie der Blitz heilten. Schließlich von zehn Tagen vergorenem Urin, der auf den Haaren zu schäumendem, pflegenden Shampoo wird sowie in Urin gekeimte Gurken, die angeblich besser gedeihen.
Besonders interessant erscheinen die abgedruckten Zuhörerreaktionen wobei sich zeigt, dass sich so mancher als passionierter Urintrinker oder -tupfer entpuppte. Unzählige Menschen schwören offensichtlich, wenn auch meist anonym und heimlich, auf den ganz besonderen Saft und seine medizinische Wirkung. Ergänzt wird die Darstellung durch Beiträge des Historikers Robert A. Esser zur Verwendung von Urin in der Textilherstellung und -pflege und des Medizinhistorikers Hans Schadewaldt, der sich mit der Geschichte des Urins in der Medizin auseinandersetzt. Insbesondere der zuletzt genannte, sehr lesenswerte und auf wissenschaftlichem Niveau verfasste Beitrag, der lediglich einen Anmerkungsapparat vermissen lässt, macht deutlich, wie sich die Menschheit seit vielen Jahrtausenden zu helfen wusste, als es noch keine Pharmaindustrie, wie wir sie heute kennen, gab. Aufschlussreich und spannend zu lesen sind in diesem Zusammenhang auch die Berichte über andere Völker und die dortige Bedeutung des Urins in Vergangenheit und Gegenwart. So stellen beispielsweise mexikanische Medizinmänner den Urin ihrer Patienten in Kürbisschalen in die Sonne und beobachten, welche Insekten davon angezogen werden: setzen sich Käfer und Fliegen auf die Schale, war Eiweiß im Urin und der Mensch krank; kamen Bienen und Wespen, war Zucker darin enthalten, was auf Diabetes hinwies. Setzten sich allerdings Schmetterlinge auf die Schale, dann war der Mensch gesund.
Auch wenn man den Ausführungen misstrauisch gegenübersteht und es wahrscheinlich nicht Sache von jederfrau und jedermann ist, wie der indische Ministerpräsident Desai, jeden Morgen ein Tässchen Eigenurin zum Frühstück zu trinken, lohnt es sich dennoch, das Buch, das seit seinem Erscheinen binnen kurzer Zeit sehr hohe Auflagen erfuhr, zu lesen. Es bleibt zu hoffen, dass die Lektüre, die betroffen macht über die Fremdheit zum eigenen Körper, dabei hilft, den über Jahrtausende gewachsenen Ekel zu einer Körperflüssigkeit, mit der wir am häufigsten von allen, Tag für Tag, Kontakt haben, zu überwinden. Alles in allem ein ungewöhnliches Lesevergnügen und Ratgeber zugleich.