Geschichte des Rettungsdienstes 1945-1990<BR>Vom „Volk von Lebensrettern“ zum Berufsbild „Rettungsassistent/in“ (Medizingeschichte im Kontext, Band 13). (Rezension)

Geschichte des Rettungsdienstes 1945-1990
Vom „Volk von Lebensrettern“ zum Berufsbild „Rettungsassistent/in“ (Medizingeschichte im Kontext, Band 13). (Kessel, Nils )

Peter Lang, Frankfurt am Main, 2008, 187 S., 39,00 €, ISBN 978-3-631-56910-8

Rezension von: Dr. Hubert Kolling

Der zivile Rettungsdienst (kurz: „RD“ oder „RettD“, in der Schweiz „Sanität“ und in Österreich „Rettung“ genannt) hat die Aufgabe, rund um die Uhr bei medizinischen Notfällen aller Art – seien es nun Verletzungen, Vergiftungen oder Erkrankungen – durch den Einsatz von qualifiziertem Rettungsfachpersonal und den geeigneten Rettungsmitteln rasch und sachgerecht zu helfen und Leben zu retten. Dabei lassen sich (vgl. www.dewikipedia.org/wiki/Rettungsdienst)
  • der bodengebundene Rettungsdienst mit den Aufgabenbereichen Notfallrettung und qualifizierter Krankentransport
  • die Luftrettung
  • der Bergrettungsdienst und
  • der Wasserrettungsdienst
unterscheiden, wobei die Spezialorganisationen der Berg- und Wasserrettung den Patienten nach der Rettung für gewöhnlich zur weiteren Versorgung an den allgemeinen Rettungsdienst übergeben. Als internationales Erkennungszeichen für den Rettungsdienst hat sich der „Star of Life“ etabliert.

In Deutschland ist der Rettungsdienst, der sich im Internet in zahlreichen Plattformen wie beispielsweise unter www.rettungsdienst präsentiert, nach dem Föderalismusprinzip des Grundgesetzes Ländersache und wird daher durch Landesgesetze geregelt. Zur praktischen Durchführung greifen die Länder dabei auf unterschiedliche subsidiäre Modelle zurück. Zugleich übertragen sie die zur Rettung anfallenden Aufgaben per Gesetz auf die Landkreise oder kreisfreien Städte. Zur Erledigung dieser Aufgaben betreiben die Kommunen ihrerseits eigene Rettungsdienstunternehmen oder sie übertragen diese Aufgabe, sofern vorhanden, den hauptberuflichen Kräften der Feuerwehr oder sie vergeben den Rettungsdienst – das mit Abstand häufigste Modell in Deutschland – an gemeinnützige Organisationen wie Deutsches Rotes Kreuz und Bayerisches Rotes Kreuz, Malteser Hilfsdienst, Johanniter-Unfall-Hilfe, Arbeiter-Samariter-Bund, Deutsche Lebens-Rettungsgesellschaft. Darüber hinaus sind hier, in begrenzterem Umfang, auch privatwirtschaftliche Unternehmen im Einsatz.

„Auf die Trage, ab ins Auto und dann so schnell wie möglich ins Krankenhaus“ – so hieß die Devise der Sanitäter vor fünfzig Jahren in der Bundesrepublik. Eine medizinische Versorgung am Unfallort war hingegen unüblich. Dieses Vorgehen geriet im Laufe der 1960er Jahre zusehends in die Kritik. Auf Druck von Ärzten, Interessengruppen und Medien kam allmählich ein Reformprozess in Gang, an dessen Ende ein grundlegender Umbau von Unfallrettung und Krankentransport stand. Vielen Menschen gilt der deutsche Rettungsdienst heute als perfekt funktionierendes System. Die nach wie vor bestehenden Mängel, etwa im Bereich der Ausbildung und des Berufsbildes, werden unterdessen von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Wer die bestehende Situation besser verstehen möchte, sollte ein Blick auf die historische Entwicklung werfen. Dies war in der Vergangenheit freilich nicht so einfach möglich, stand dem Fehlen einer historischen Überblicksdarstellung doch lange Zeit eine unübersehbare Fülle an Schriften zum Rettungsdienst gegenüber, die den Rettungsdienst lediglich unter medizinischen, organisatorischen, juristischen oder ökonomischen Fragestellungen behandelten. Dies hat sich nun dank der Veröffentlichung des Buches „Geschichte des Rettungsdienstes“ geändert. Nils Kessel zeichnet darin als Historiker dezidiert den Wandel im Rettungsdienst von einem nichtmedizinischen, zumeist ehrenamtlichen Verletzten- und Krankentransport hin zu einem organisierten, professionellen, auf notfallmedizinischem Handeln gestützten Berufsrettungsdienst nach. Bei der Arbeit, der ersten übergreifenden Darstellung zur Geschichte des Rettungsdienstes in der Bundesrepublik, handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung einer Magisterarbeit, die der Autor im Sommersemester 2006 der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau eingereicht hat.

Bei seinen Ausführungen, die sich hauptsächlich auf Westdeutschland zwischen 1945 und 1990 konzentrieren, stützt sich Nils Kessel auf umfangreiches Quellenmaterial, darunter Selbstzeugnisse beteiligter Organisationen, zeitgenössische Zeitungs- und Zeitschriftenberichte sowie juristische und medizinische Literatur. Der Autor, der nach dem Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Geschichte der Medizin und Französisch gegenwärtig als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Freiburg im Breisgau arbeitet, hat seine Untersuchung in vier Kapitel gegliedert. Im ersten Teil unternimmt er den „Versuch einer historischen Standortbestimmung“ unternimmt, wobei er die Anfänge des organisierten Rettungswesens seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1949 nachzeichnet. Iim zweiten Teil („Auf dem Weg zum ‚Volk von Lebensrettern’“) widmet er sich ausführlich dem Krankentransport und der Unfallrettung vom Beginn der Bundesrepublik bis zum Ende der sechziger Jahre. Im dritten Teil („Von Pionieren und Experten“), der die chronologische Abfolge der Gliederung in gewisser Weise unterbricht, indem er den Zeitraum von 1957 bis 1975 behandelt, untersucht der Autor frühe, von Ärzten ab 1957 entwickelte Alternativmodelle zum bestehenden Rettungswesen auf ihre ‚Pionierrolle’, identifiziert Trägergruppen des Wandels und grenzt diese voneinander ab. In einem weiteren Schritt betrachtet er dann den konkreten Reformprozess und arbeitet den Anteil heraus, den die einzelnen Beteiligten an ihm hatten. Unter der Überschrift „Beharren und Verändern“ geht der Autor im vierten und letzten Teil für die Jahre 1975 bis 1990 schließlich der Frage nach Tiefe und Auswirkungen des Wandels nach, wobei die Schwerpunkte seiner Untersuchung die Probleme der Finanzierung, der Professionalisierung (Berufsbild „Rettungsassistent/in“) und der Zugang zum Rettungsdienst sind.

Ergänzt wird die Darstellung durch einen materialreichen Anhang, der neben einem Glossar, einigen Tabellen mit statistischen Angaben zum Unfallrettungsdienst in der Bundesrepublik und einer Bibliographie auch den Krankentransport im Verlauf von 100 Jahren in Abbildungen dokumentiert. Da die größtenteils historischen Aufnahmen hierbei mehr als nur ein schmückendes Beiwerk sind, hätte man sich diese freilich in einem wesentlich größeren Format gewünscht. Statt dessen wurde hier an der falschen Stelle am Platz gespart und bis zu fünf Bilder auf eine Seite gequetscht. Hätte es sich um Briefmarken gehandelt, wäre die Größe in Ordnung gewesen, so aber wird – sofern man keine Lupe zur Hand nimmt – der Aussagewert stark eingeschränkt.

Nils Kessel begreift in seiner Untersuchung den Rettungsdienst nicht als isolierte, sondern als eine tief in der Gesellschaft verankerte Einrichtung des Gesundheitswesens, der einem Wandel in der Wahrnehmung, in seiner Organisation und in den an ihn gestellten Ansprüche unterlag. Wie er eindrucksvoll aufzeigt, ließ die Bedrohung des Kalten Krieges schon 1950 das Interesse an Katastrophenschutz als verdeckter Vorsorge im Kriegsfall wachsen. Der Krankentransport, vor allem aber der Unfallrettungsdienst, seien in diese Planungen mit einbezogen worden. Mit den Unfallhilfsstellen standen dabei kleine, dezentrale und autarke Versorgungsstützpunkte zur Verfügung. Die Verwendung dieser Einrichtungen als Katastrophenschutzeinrichtungen und Anlaufpunkte für die Unfallrettung hätten ihren großflächigen Ausbau in den kriegsmüden fünfziger Jahren ermöglicht, ohne die Ängste der Bevölkerung zu wecken. Diese für den Zivilschutz im Krieg effizienten Einrichtungen hätten aber unter zivilen Bedingungen zunehmend versagt, weil die Diskrepanz zwischen ihnen und moderner medizinischer Praxis nicht mehr zu übersehen war. Daraus speisten sich, so der Autor, die Reformansätze, die von „Rettungsärzten“ erarbeitet wurden: „Sie legten die Grundlagen für einen Umbau des Rettungswesens nach medizinischen Erfordernissen. Zwei Generationen von Chirurgen, Lehrer und Schüler, wandten ihre Erfahrungen, die sie im Zweiten Weltkrieg gewonnen hatten, auf den Bereich des Zivilen an.“

Im Vergleich zu 1990 präsentiert sich der Rettungsdienst nach Ansicht von Nils Kessel zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einigen Bereichen unverändert, wobei noch immer die Probleme, die seit den 1980er Jahren präsent seien, die aktuelle Diskussion prägten. Vor allem der soziale Status, die Bezahlung und die Aufstiegsmöglichkeiten sind demnach für viele Mitarbeiter des Rettungsdienstes Grund zur Unzufriedenheit. Schon Anfang der neunziger Jahre habe das Rettungsassistentengesetz Schwächen gezeigt, die es bis heute gäbe. So müsse das Personal für die Ausbildung an der Schule immer noch zahlen statt Lohn zu erhalten, während die Praktika an Lehrrettungswachen äußerst rar gesät seien und die Zahl der ausgebildeten Rettungsassistenten die Zahl der freien Arbeitsplätze um ein Vielfaches übersteige.

In seinem abschließenden Fazit hält der Autor aufgrund seiner Forschungsarbeit fest, dass Unfallrettung und Krankentransport „nie ‚nur’ Lebensrettung und die Fahrt ins Krankenhaus (waren), sondern auch medizinische Forschungsobjekte, Beruf oder Berufung, Aufgabe von Hilfsorganisationen, Katastrophenvorsorge, eine Frage der Ausbildung oder ‚Männerdomäne’“ (S. 126).

Wenngleich man in einzelnen Punkten andere Sichtweisen und Ansichten vertreten mag, können alle, die sich für die Geschichte der Medizin und des Gesundheitswesens im Allgemeinen und die Geschichte des Rettungsdienstes im Besonderen interessieren, das Buch von Nils Kessel fruchtbringend zur Hand nehmen.