Das eigene Sterben |
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Das Sterben in den entwickelten Industriestaaten wurde im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr und mehr als Angelegenheit medizinischer Versorgung und der in diesem Bereich Tätigen verstanden. Als Reaktion auf das Unbehagen an dieser Situation – Stichwort „unmenschliche Apparatemedizin“ – entstand die Hospizbewegung und in der Folge davon die Palliativmedizin. Ohne die Bedeutung dieser Bewegung schmälern zu wollen, muss aber kritisch festgestellt werden, dass eines der zentralen ursprünglichen Ziele der Hospizbewegung nur zu einem Teil realisiert werden konnte, nämlich eine Transformation des gesellschaftlichen Umgehens mit Sterben und Tod und damit des gesicherten, im gesellschaftlichen Bewusstsein verankerten Verständnisses des Todes. Der seit Jahren schwelende Streit um die Patientenverfügung mag dafür exemplarisch stehen.
Im Mittelalter, einer Zeit, die zum einen dadurch gekennzeichnet war, dass das Sterben alltäglich war, und zum anderen dadurch, dass das menschliche Vermögen, dagegen etwas zu tun, verschwindend gering war, gab es eine Ars moriendi. Darunter wurde eine Einübung in das stets und immer sterbliche Leben verstanden. Die Ars moriendi ist damit gleichzeitig eine Ars vivendi – nämlich die Einübung in eine Art des Lebens, die den Tod als selbstverständlich zum Leben gehörend weiß und damit als angemessen bezeichnet werden kann. Etwas davon kommt in dem an den Genfer Reformator Johannes Calvin erinnernden Spruch „Mitten im Leben wir vom Tod umfangen sind“ zum Ausdruck.
Nun wäre es unhistorisch, würde man angesichts des schwierigen Diskurses über Sterben und Tod in der gegenwärtigen Gesellschaft einfach die Rezeption der mittelalterlichen Ars moriendi empfehlen; das Bemühen scheitern. Zum einen wurde in den modernen Gesellschaften eine Fülle von Verfahren entwickelt, das Sterben und den Tod aus dem täglichen Blick zu verbannen; zum anderen – und das steht in einer Wechselwirkung dazu – stehen heute in der Medizin Techniken zur Verfügung, das Sterben zu verhindern, was zu der vielfach uneingestandenen und irrigen Vorstellung geführt hat, dass auch der Tod verhindert werden könnte.
Es wäre also zu bedenken, wie eine Ars moriendi/vivendi vor dem Hintergrund der aktuellen Lebensbedingungen – und das schließt die technischen Möglichkeiten ein – aussehen könnte. Der Schweizer Theologe Heinz Rüegger, Leiter der Stabsstelle Theologie und Ethik der Stiftung Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule, Zollikerberg, unternimmt in dem hier vorzustellenden Büchlein einen solchen Versuch. Die Bezeichnung „Versuch“ ist nicht abwertend zu verstehen. Der Autor schreibt im Vorwort: „Die hier vorgelegten Gedanken wollen nichts Abschließendes sein. Sie verstehen sich vielmehr als Annäherungen an ein Thema, das sich - vom Wesen der behandelten Sache her - unserem zudringlichen Begreifen- und Durchschauen-Wollen entzieht und dennoch zu ernsthaftem Nachdenken und Sich-darauf-Einlassen herausfordert. Dabei wollen die nachfolgenden Überlegungen nicht nur zur weitergehenden theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema beitragen; vielmehr möchten sie anregen und ermutigen, sich persönlich und existenziell auf die angeschnittenen Fragen einzulassen.“
In dem ersten Kapitel zeichnet Rüegger nach, was unter Lebenskunst – Ars moriendi und Ars vivendi – verstanden wurde und werden kann. Das zweite Kapitel ist dem Umgang mit Sterben und Tod in der Tradition gewidmet. Im dritten Kapitel wird der Wandel aufgezeigt, dem das Sterben unterliegt. Das vierte Kapitel ist mit der Frage „Der Tod als Feind?“ überschrieben; es werden die theologische und medizinische Perspektive beleuchtet. Im fünften Kapitel wird die Angst vor dem Würdeverlust beim Sterben thematisiert.
Vor dem Hintergrund dieser quasi Vorüberlegungen werden im sechsten Kapitel Bausteine einer neu zu gewinnenden Ars moriendi skizziert.
In einem Epilog wird mit Rückgriff auf Markus H. Wörner („Gelungenes Leben“ in: A. E. Imhof/R. Weinknecht (Hrsg.): Erfüllt leben – in Gelassenheit sterben.) die Frage bedacht, was es heißt, ein Mensch zu sein. Wenn es hier abschließend heißt, dass die Ars vitae und die Ars moriendi notwendig ineinander verschränkt sind, verweißt dies vielleicht auch auf den Genfer Reformator, bei dem es vollständig heißt: „Wie wir mitten im Leben vom Tode umfangen sind, so müsst ihr jetzt auch ganz fest überzeugt sein, dass wir mitten im Tode vom Leben umfangen sind.“
Auf den letzten Seiten findet der Leser ein für ein Buch dieses Umfangs ungewöhnlich ausführliches Literaturverzeichnis. Das Büchlein sei zur Lektüre allgemein empfohlen, im Besonderen aber auch Unterrichtenden, die einen Einstieg in beinen entsprechenden Unterricht suchen.