Wider die Geschichtslosigkeit der Pflege (Rezension)

Wider die Geschichtslosigkeit der Pflege (Walter, Ilsemarie, (Hrsg.) )

ÖGVP Verlag. Wien 2004, 181 S., ISBN 3-9500776-8-5

Rezension von: Dr. Hubert Kolling

Seit 1992 findet alle zwei bis drei Jahre ein Internationaler Kongress zur Geschichte der Pflege statt, der abwechselnd in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland durchgeführt wird und neue Arbeiten der Historischen Pflegeforschung vorstellt. Die sechste Veranstaltung dieser Art, zu der man sich in Wien traf, stand unter dem Motto „Wider die Geschichtslosigkeit der Pflege“ und wurde von der Abteilung Pflegeforschung des Instituts für Pflege- und Gesundheitssystemforschung (IPG) der Universität Linz organisiert.

Der vorliegende, von Ilsemarie Walter, Elisabeth Seidl und Vlastimil Kozon herausgegebene Band enthält die überarbeiteten Fassungen der einzelnen, dort gehaltenen Referate, ergänzt durch einen weiteren Beitrag. In ihrer Begrüßungsansprache (S. 9-10) würdigt Elisabeth Seidl zunächst Hilde Steppe (1947-1999) als Pionierin der historischen Pflegeforschung, bevor sie dann auf die Bedeutung der Geschichte für den Erkenntnisgewinn auch in der Pflege hinweist. So sei es zwar geradezu modern geworden, bei jeder Eröffnungsfeier, bei jedem Jubiläum, über die Geschichte der betreffenden Institution zu reden, eine fundierte Kenntnis der Sache oder eine genauere Ausführung sei damit aber eher selten verbunden. Ein „Lernen aus der Geschichte“, wie es Steppe für die Pflege häufig forderte, brauche aber mehr.

Im Hauptbeitrag geht Margarete Grandner für Österreich dem Verhältnis von „Krankenpflege und Sozialpolitik“ (S. 11-24) im 19. und 20. Jahrhundert nach. Hierbei kommt die Autorin zu dem Schluss, dass sehr lange Zeit vonseiten der Sozialpolitik ein „blinder Fleck“ in Bezug auf die Pflege bestanden hat. Der Blick sei vielmehr auf die ärztliche Profession gerichtet gewesen, während die anderen Leistungen, die für Kranken erbracht werden mussten, gleichsam als selbstverständlich angesehen wurden.

Vor diesem Hintergrund sind auch die nächsten beide Beiträge zu lesen, die ebenfalls neue Erkenntnisse und Blickwinkel zur Geschichte der Pflege in Österreich erlauben. Unter der Überschrift „Zur beruflichen Pflege in Österreich 1784 bis 1914“ (S. 25-44) beschäftigt sich Ilsemarie Walter mit den sogenannten Wärterinnen und Wärter, die über einen langen Zeitraum hinweg in den großen öffentlichen Krankenhäusern, vor allem im Wiener Allgemeinen Krankenhaus, das 1784 mit 2.000 Betten gegründet wurde, für die Pflege verantwortlich waren. Wie die Autorin zeigen kann, hat sich in der Geschichte der Österreichischen Pflege bis zum Jahre 1914 kaum etwas geändert. Die Klagen, die Arbeitsbedingungen seien so schlecht gewesen, dass man nicht genügend gute Pflegekräfte finden könne, hätten sich dabei ebenso wiederholt wie die Klagen, dass das Pflegepersonal nicht ausgebildet sei. „Wenn heute in der österreichischen Pflege so mancher Nachholbedarf erkennbar ist,“ so Ilsemarie Walter feststellend, „so wird man nicht fehlgehen, wenn man eine der Ursachen dafür in dieser mehr als ein Jahrhundert dauernden Stagnation der Berufsentwicklung im größten Krankenhaus der Monarchie erblickt“ (S. 43).

Der gewählte Titel des folgenden Beitrags von Gabriele Dorffner und Vlastimil Kozon „Meilenstein oder Notlösung?“ (S. 45-65), der sich anhand der „Verordnung des Ministers des Innern vom 25. Juni 1914, betreffend die berufsmäßige Krankenpflege“ mit der ersten gesetzlichen Regelung der Krankenpflegeausbildung in Österreich auseinandersetzt, weist bereits darauf hin, dass diese Maßnahme zwar einen wichtigen Fortschritt für die österreichische Pflege brachte, jedoch nicht ohne Problematik war. Nach Ansicht der Autoren hatte die Verordnung, obwohl die nötigen Rahmenbedingungen fehlten, die eine Konsolidierung des Berufes erst möglich gemacht hätten, bewirkt, „dass die Pflege ein neues Selbstbewusstsein entwickelte. Sie hat trotz ihrer Mängel zur Entwicklung der Krankenpflege maßgeblich beigetragen. Sie hat aber auch entscheidende Wertungen gesetzt, mit denen die Krankenpflege in ihrer Entwicklung bis in die jüngste Gegenwart zu kämpfen hat“ (S. 65).

In ihrem Beitrag „Christliche Krankenschwestern und ihre autonomen Leistungen im 19. Jahrhundert“ (S. 67-84) berichtet Traudel Weber-Reich – aufgrund einer mikrohistorischen Studie über die Pflege in der Stadt Göttingen – von Handlungsspielräumen leitender Krankenschwestern, die der Pflege später verloren gingen. Dabei macht sie auf eine „doppelte Enteignung der Schwestern“ aufmerksam: „Zum einen durch Ärzte, die mit Hilfe von Politikern zu Beginn des 20. Jahrhunderts Machtpositionen in den Krankenhäusern der Schwestern eroberten und eine Degradierung der Pflege zum ärztlichen Hilfspersonal erzwangen. Und zum anderen durch eine diskriminierende Pflegegeschichtsschreibung, die der Krankenschwester vielfach lediglich eine untergeordnete Rolle zuschreibt und ihre Aufbauleistung nicht anerkennt“ (S. 82).

Einen Bereich, über den bisher noch sehr wenig bekannt war, hat Monika Muringer erforscht. Sie berichtet über „Die Krankenpflegeschulen in der Steiermark in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (S. 85-112), zu denen auch die von 1909 bis 1913 in Graz existierende Schule gehörte. Nach einer Darstellung der Schulen, in denen die „Krankenpflege als Beruf“ erlernt werden konnte, widmet sich die Autorin besonders der „Erziehung zur Pflegerin“ anhand der zahllosen „Schwesternordnungen“, bevor sie die „Berufskleidung“ und ihre Funktion sowie Brosche und Haube als spezifische Merkmalsträger der Berufskleidung von weltlichen Krankenpflegepersonen, die über Jahrzehnte bestimmendes und reglementierendes Element blieben, behandelt. Wie die Autorin zeigt, wurde in der Steiermark erstmals im Jahre 1909 für weltliche Pflegepersonen eine organisierte Krankenpflegeausbildung angeboten. Nach schwierigen Anfängen sei „man rund 100 Jahre später in der Steiermark offensichtlich bereit, der ‚Gesundheits- und Krankenpflege’ einen anderen Stellenwert zuzuweisen, indem für 2004/2005 ein Lehrstuhl für Pflegewissenschaften bewilligt wurde“ (S. 110).

In ihrem Beitrag „Die Entwicklung der Krankenpflege und der Psychiatriepflege in der Schweiz“ (S. 113-122) beschäftigt sich Sabine Braunschweig mit der Geschichte der Psychiatriepflege, wobei sie auch Unterschiede zwischen dieser und der allgemeinen Krankenpflege herausarbeitet. Mithilfe zeitgenössischer Artikel in einschlägigen Fachzeitschriften verdeutlicht die Autorin, dass sich Aspekte des Dienens und Unterordnens in den zahlreichen Artikeln, die Psychiatriepflegende zu ihrem Berufsbild verfassten, nicht vorfinden, auch der Begriff „Berufung“ sei nur selten anzutreffen. Im Unterschied zu Texten, die Ärzte in der vom krankenpflegerischen Berufsverband herausgegebenen Zeitschrift „Blätter der Krankenpflege“ zum Berufsbild der Krankenschwester verfassten, hätten Psychiater dem Psychiatriepflegepersonal gegen Ende der 1920er Jahre vermehrt einen gewissen Handlungsspielraum eingeräumt.

Unter der Überschrift „Frontschwestern und Friedensengel“ (S. 123-154) berichten Birgit Panke-Kochinke und Monika Schaidhammer-Placke über die Kriegskrankenpflege in der Etappe im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Sie analysieren hierbei das Bild der weiblichen Kriegskrankenpflege und die Erfahrungen der Schwestern, wobei sie die Situation im Zweiten Weltkrieg jener im Ersten Weltkrieg gegenüberstellen. Nach Ansicht der Autorinnen reagierten viele Schwestern auf die extremen Bedingungen „mit Rastlosigkeit und Lebenshunger. Leere Zeit, die nicht mit Arbeit oder Freizeitaktivität gefüllt war, barg die Gefahr des Absturzes. Gleichwohl konnte die schockierende Konfrontation mit massenhaftem Leid und Tod nur bewältigt werden, wenn eine Anpassung an die Realität des Kriegsalltags gelang“ (S. 154).

In seinem Beitrag „... die wollten absolut mich verheiraten“ (S. 155-163) berichtet Heinrich Recken – gestützt auf die Auswertung berufsbiographischer Interviews mit Krankenschwestern – von den Motiven, die Krankenschwestern für ihre Berufswahl in der Zeit zwischen 1930 und 1940 bezeichneten. Neben den historischen Begleitumständen wie die Wirtschaftskrise, der Zweite Weltkrieg und das Werben des Roten Kreuzes um die Kriegskrankenpflege spielte für die Berufswahl nach Ansicht des Autors auch der „Doppelcharakter der Pflege“ eine bedeutende Rolle zu: „Einerseits wird die Tätigkeit in der Pflege als eine spezifisch weibliche beschrieben, auf der anderen Seite ist die Entscheidung für die Krankenpflege gleichzeitig auch eine Entscheidung gegen einen gesellschaftlich geprägten weiblichen Lebensentwurf, der für Frauen ein Aufgehen in Ehe, Haushalt, Familie bedeutet“ (S. 162).

Im Anschluss daran schlägt Eva-Maria Ulmer mit ihrer Darstellung über „Das Hilde-Steppe-Archiv“ (S. 165-168) in Frankfurt am Main und dem Aufruf zur tätigen Mitarbeit eine Brücke zur Gegenwart und Zukunft der historischen Pflegeforschung.

Ergänzt wird der Band durch einen weiteren Beitrag von Ilsemarie Walter, in dem sie „Die Quellenlage zur österreichischen Pflegegeschichte“ (S. 169-177) am Beispiel der Forschung über die Pflege im Wiener Allgemeinen Krankenhauses schildert und dabei methodische Fragen der Archivarbeit in den Vordergrund stellt. Die Autorin wendet sich dabei zunächst einmal an diejenigen, die sich für die Geschichte der Pflege interessieren und dazu forschen möchten. Gerade weil über die Geschichte der Pflege in Österreich so wenig bekannt sei, gäbe es noch viel zu entdecken.

Gerade in einer Zeit, in der sich die Pflege in raschem Wandel befindet, ist der Blick in die Vergangenheit des Berufes sinnvoller den je. Wenngleich es keine Patentrezepte gibt, kann die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Berufsgeschichte den Blickwinkel weiten, Zusammenhänge aufzeigen und Mythen, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben, aufdecken. So zeigt das vorliegende Buch seiner Leserschaft nicht nur unterschiedliche historische Ansätze auf, sondern macht auch länderspezifische Varianten in der Entwicklung der Pflege sichtbar. Insofern ist zu wünschen, dass es von möglichst vielen Personen zur Hand genommen wird, die in der Pflege aktiv sind.