Die Entwicklung der Krankenpflege zur staatlich anerkannten Tätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert |
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Seit gut zwanzig Jahren gibt es in Deutschland eine mehr oder weniger intensive Debatte um die Professionalisierung der Pflegeberufe. Als Vorbild dient dabei meistens der Krankenpflegeberuf in England und den USA, wo die Ausbildung im Rahmen universitärer Studiengänge beziehungsweise an Colleges stattfindet und die Pflegeforschung international anerkannt ist. Eine besondere Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang der von der Robert Bosch Stiftung herausgegebene Bericht „Pflege neu denken. Zur Zukunft der Pflegeausbildung“, den die Kommission „Zukunftswerkstatt Pflegeausbildung“ im September 2000 vorgelegte. Darin wurden die seit den 1980er Jahren einsetzende Verankerung pflegewissenschaftlicher Studiengänge an den Universitäten und die universitären Studiengänge zur Lehrerausbildung mit dem Schwerpunkt Pflege zwar als einen Vorgang von großer Bedeutung gewertet, zugleich aber auch Defizite aus einem nicht ausreichend entwickelten berufspolitischen Bewusstsein heraus gesehen. Nach Ansicht der Kommission, die sich aus leitenden Pflegekräften und Universitätsangehörigen zusammensetzte, fehlten etwa klare Aussagen darüber, über welche Kompetenzen qualifiziert ausgebildete Pflegekräfte verfügten und welches Ausmaß an Verantwortung die Berufsangehörigen zu übernehmen in der Lage seien. Die Experten waren sich in jedem Fall einig darüber, dass die Gegenwart durch die Strukturen der Vergangenheit belastet sei. Als systemimmanente Defizite nannten sie dabei unter anderem die Einbindung in die Krankenhausstrukturen, die formal-rechtlichen Vorgaben des Gesetzgebers und den Mangel an wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Pflege. Die pflegerischen Ausbildungen in Deutschland hätten sich bisher stets innerhalb der vor annähernd 100 Jahren gegebenen Normen und Formen entwickelt. Vor diesem Hintergrund hat sich der Bochumer Medizinhistoriker Christoph Schweikardt im Rahmen einer Studie, mit der er sich 2006 an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum für das Fach „Geschichte, Theorie, Ethik der Medizin“ habilitierte, eingehend mit der Entwicklung der Krankenpflege zur staatlich anerkannten Tätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigt. Seine Untersuchung, die nun in einer überarbeiteten Fassung in Buchform vorliegt, hat er dabei breit angelegt, worauf bereits der Untertitel „Das Zusammenwirken von Modernisierungsbestrebungen, ärztlicher Dominanz, konfessioneller Selbstbehauptung und Vorgaben preußischer Regierungspolitik“ treffend hinweist.
Gestützt auf die Auswertung einer Vielzahl zeitgenössischer Publikationen sowie ungedruckter Quellen, unter anderem aus dem Bundesarchiv Berlin, dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, der Historischen Bibliothek der evangelischen Kirche (Bibliothek der Inneren Mission) in Berlin, dem Archiv des Evangelischen Diakonievereins Berlin-Zehlendorf, dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, dem Fliedner-Archiv in Düsseldorf-Kaiserswerth, dem Agnes-Karll-Archiv des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe in Berlin, dem Archiv des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg und dem Archiv der Bayerischen Schwesternschaft vom Roten Kreuz in München, analysiert der Autor dabei die Entwicklung der Krankenpflege innerhalb der Strukturen des preußischen Medizinalwesens im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Einen besonderen Schwerpunkt bilden dabei die Macht- und Interessenkonstellationen, die den gesetzgeberischen Entscheidungsprozessen im Kaiserreich zugrunde lagen und in das staatliche preußische Krankenpflegeexamen von 1907 mündeten. In diesem Zusammenhang stellt Christoph Schweikardt auch die Frage nach der Bedeutung des politischen und institutionellen Gefüges im Reich. Welche Rolle spielten die einzelnen Institutionen im Entscheidungsprozeß, der zum Bundesratsbeschluss von 1906 und nachfolgend zum preußischen Krankenpflegeexamen von 1907 führte? Wie stand es um die Mitwirkung von Reichstag, Kaiserlichem Gesundheitsamt, Reichsgesundheitsrat und den beteiligten preußischen Ministerien? Welche berufspolitischen Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten hatten Pflege- und Ärzteverbände? Welche Macht- und Interessenskonstellationen setzten sich vor dem Hintergrund der politischen Gesamtkonstellation durch und welche Bedeutung hatte dies für den Pflegeberuf? Zudem fragt er nach den Werten, Weltbildern und Deutungsmustern der Akteure, die hinter den tagespolitischen Interessen standen. „Nicht zuletzt angesichts der großen Bedeutung konfessioneller Kräfte für die Krankenpflege“, so der Autor, „sind hier die Strategien katholischer und evangelischer Interessenvertreter zwischen Abgrenzung und Anpassung in der Abwehr von Säkularisierungstendenzen von Bedeutung, wobei gleichzeitig nach ihrem politischen Gewicht im Entscheidungsprozeß zu fragen ist“ (S. 29).
Wie die Darstellung zeigt, stand den berufspolitisch engagierten Pflegenden aufgrund ihrer organisatorischen Zersplitterung, der stark ausgeprägten weltanschaulichen und sozialen Gegensätze innerhalb der Pflege sowie geringem politischem Einfluss ein erdrückendes Übergewicht gegenüber. Alle relevanten an den politischen Entscheidungen beteiligten Akteure, insbesondere Ärzte sowie staatliche und kirchliche Gremien, hätten zuungunsten des Krankenpflegeberufes zusammengewirkt. Dies habe dazu geführt, dass die Krankenpflege nicht nach angloamerikanischem Vorbild professionalisiert, sondern als ärztlicher Hilfsberuf auf sehr niedrigem Niveau normiert worden sei. Im Vorwort weist Christoph Schweikardt darauf hin, dass Teile seiner Forschungsergebnisse bereits in Zeitschriften und Buchbeiträgen veröffentlicht worden sind. Ziel der vorliegenden Ausgabe sei es, „den Text einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen“ (S. 6).
Hierbei verdient das Engagement der Robert Bosch Stiftung besondere Beachtung, die die Veröffentlichung durch einen namhaften Druckkostenzuschuss gefördert hat.
Bleibt nur zu hoffen, dass im Zuge der Akademisierung der Pflege auch die historische Pflegeforschung verstärkte Aufmerksamkeit innerhalb wie außerhalb des Pflegeberufes erfährt. In diesem Sinne ist dem Buch eine weite Verbreitung zu finden.