Atemlos |
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Der britische Mathematiker und Astrophysiker Stephen Hawking leidet darunter, der deutsche Maler und Kunstprofessor Jörg Immendorf (1945-2007) fiel ihr zum Opfer. Die Rede ist von der Amyotrophen Lateralsklerose (Abkürzung: ALS), einer schwerwiegenden, weltweit auftretenden, insgesamt seltenen Erkrankung des motorischen Nervensystems, bei der es zu einer fortschreitenden und irreversiblen Schädigung oder Degeneration der Nervenzellen kommt, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind. Im Verlauf der bislang unheilbaren Erkrankung, deren Überlebenszeit im Mittel etwa drei bis fünf Jahre beträgt, kommt es durch die Lähmungen der Muskulatur unter anderem zu Gang-, Sprech- und Schluckstörungen, eingeschränkter Koordination und Schwäche der Arm- und Handmuskulatur und dadurch zu einer zunehmenden Einschränkung bei den Aktivitäten des täglichen Lebens. Während sich angesichts der Diagnose manche Patienten einen schnellen Tod wünschen, entdecken andere ihren Lebenswillen neu.
Zur letzteren Gruppe gehört auch die Schweizerin Sonja Balmer (geboren 1972 im Kanton Solothurn), die im Alter von 28 Jahren mit der Diagnose ALS konfrontiert wurde. „Ich war viel zu feige, zu schwach, überhaupt an Selbstmord zu denken, geschweige denn meinem Leben tatsächlich ein Ende zu machen“, hält sie im Prolog zu ihrem Buch „Atemlos“ fest. Also muss sie sich dem Leben und den damit verbundenen Problemen des Alltags stellen, vor allem aber der ständigen Frage nach dem Wert ihres Lebens, im ständigen Kampf um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.
Die Autorin – inzwischen 24 Stunden auf eine Beatmungsmaschine angewiesen – berichtet zunächst davon, wie die Zustände bei ihr in früher Jugendzeit begannen. Damals zeigten sie sich in Form einer plötzlich einsetzenden Muskelerschlaffung. Auf einen Schlag hatte sie für Sekunden bis wenige Minuten keine Kontrolle über ihre Bewegungen beziehungsweise Muskeln mehr und sackte in sich zusammen, fiel unkontrolliert, kraftlos zu Boden. Die mit den Symptomen übereinstimmende Diagnose ALS konnte erst viele Jahre später gestellt werden, da einige Symptome mit einer schweren chronischen Gelenksentzündung überlappten. Die immer wieder akut auftretenden Zustände völliger Unbeweglichkeit verstärkten sich während Jahren zunehmend bis zur völligen Hilflosigkeit. Oft seien falsche Urteile gefällt worden wie zum Beispiel, dass sie psychisch krank ist.
Sonja Balmer schildert in ihrem Buch, das 2006 in der zweiten Auflage erschien, aber auch anschaulich und einfühlsam, wie zunehmende Pflegebedürftigkeit und Abhängigkeit ihren Alltag veränderten. Sie erzählt von einer Kreuzfahrt, die sie zusammen mit Elektrorollstuhl, Arzt und zahlreichen Hilfspersonen und Hilfsmitteln unternahm, von schwierigen Reaktionen, mit denen sie sich konfrontiert sah, und von der Bedeutung von Freundschaften.
Da die Autorin wie alle Patientinnen und Patienten, die an ALS leiden, um ihre zeitliche Begrenztheit weis, setzt sie sich immer wieder nicht nur mit medizinischen und technischen Fragen auseinander: Soll etwa mein eigener Atem durch Maschinen unterstützt, später sogar ersetzt werden? Werde ich durch die neuen medizinischen und technischen Möglichkeiten nur verführt, meinem nahen Lebensende auszuweichen? Habe ich die Kraft, mithilfe dieser Unterstützung meinem weiteren körperlichen Zerfall zu akzeptieren und damit auch länger zu leben? Finde ich trotz der Apparate und Hilfestellungen noch Zeit, mich selber zu sein, nicht nur als Objekt meiner Krankheit wahrgenommen zu werden?
Mit ihren „Aufzeichnungen zwischen Beatmungsmaschine, Schläuchen und Computer“, so der treffende Untertitel des Buches, verschafft Sonja Balmer nicht nur sich selbst, sondern allen Schwerkranken und Behinderten, aber auch allen anderen, die um ein selbstbestimmtes Leben kämpfen, Gehör. In der ihr eigenen Art, sich ohne Scheu mit dem Thema Krankheit und Tod auseinanderzusetzen, führt sie ihre Leserschaft immer wieder zu deren eigenen Grenzen und Begrenztheit.
In Zeiten, in denen die Eindämmung der sogenannten Kostenexplosion im Gesundheitswesen spürbare Auswirkungen auf den Alltag vieler Patienten hat, setzt Sonja Balmer sich auch kritisch mit dem Sozialstaat auseinander. So fragt sie etwa danach, wie viel uns unsere Gesundheit wert ist und wie viele Kosten jemand mit einer schweren Krankheit oder einer Behinderung verursachen darf. Indem sie die damit verbundenen Probleme naturgemäß aus ihrer subjektiven Betroffenheit heraus betrachtet, zeigt sich ein Gesundheitswesen, das aus ökonomischen Gründen immer inhumaner wird und immer mehr Kranken ihrer Selbstbestimmung beraubt.
Neben den berechtigten Sorgen um die weitere Entwicklung des (schweizerischen) Gesundheitswesens gewährt Sonja Balmer in ihrem Buch aber auch immer wieder tiefe Einblicke in ihre Erkrankung, ihre damit verbundenen Gefühle der Hilflosigkeit und Trauer, ebenso wie der Wut gegenüber verständnislosen Gesunden. Insgesamt betrachtet ist „Atemlos“ ein sehr persönlich geschriebenes, ein berührendes und nachdenklich stimmendes Buch das in die Hände all jener gehört, denen schwer kranke und behinderte Menschen am Herzen liegen oder die mit ihnen arbeiten.
Franz Michel, Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie sowie seit 2002 Leiter des Ambulatoriums des Schweizerischen Paraplegiker-Zentrums Nottwil, hat zu dem Buch ein Nachwort (S. 155-158) beigesteuert. Darin schreibt er unter der Überschrift „Konfrontiert mit Grenzen“: „Die Krankheit ALS fragmentiert nicht den Menschen, jedoch den Körper von Sonja Balmer: Sie kann kaum mehr sprechen. Sie spricht leise, nur noch kurze Sätze, unterbrochen durch den raschen oberflächlichen Atem. [...] Das Leben mit der Krankheit ALS bedeutet für sie nie nur eine stete Zunahme von Einschränkungen. Sie will frei sein von Hemmnissen und Hindernisse überwinden, sich von äußeren Zwängen lossagen. Ihr gelingt es dadurch, ein reiches und ein derart intensives Leben zu führen, wie es nur im Bewusstsein der unmittelbaren Vergänglichkeit möglich ist. Dem scheinbaren Gegensatz von Leben und Tod stellt Sonja Balmer ihre eigene Sicht entgegen, nämlich die Sicht der Grenzgängerin. Ein Teil von ihr stirbt unaufhaltsam, der andere Teil will intensiv am Leben teilhaben. Nur im künstlerischen Ausdruck, indem sie musiziert, malt und schreibt, kann die Gefahr der eigenen Spaltung aufgefangen werden. Wir begleiten Sonja Balmer auf diesem Grenzgang, wobei wir selber die Grenze nur erahnen können. Wir sind als Begleitende von Sonja Balmer immer nur diesseits dieser Grenze“ (S. 157). Dennoch, die Begleitung lohnt sich!