Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d`Anniviers<br> Erinnerungen herausgegeben von Yvonne Preiswerk nach Aufzeichnungen von Gesprächen Adelines mit ihren Nichten Marie-Nöelle Bovier und Pierrette Mabillard<br> Mit einem einleitenden Text von Susanne Perre

Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d`Anniviers
Erinnerungen herausgegeben von Yvonne Preiswerk nach Aufzeichnungen von Gesprächen Adelines mit ihren Nichten Marie-Nöelle Bovier und Pierrette Mabillard
Mit einem einleitenden Text von Susanne Perren
Aus dem Französischen von Maja Spiess-Schaad (Favre, Adeline)

Limmat Verlag, Zürich, 2009, 208 S., Pappband, 19,50 €, ISBN 978-3-85791-581-9

Rezension von: Dr. Hubert Kolling

Adeline Favre (1908-1983) wurde in St. Luc im Val d´Anniviers (Schweiz) als achtes von vierzehn Kindern geboren. In einer Zeit und in einer Gegend, wo es für junge Mädchen scheinbar nichts anderes gab, als früh zu heiraten und sich damit ihrem Mann vollständig zu unterwerfen, besuchte sie gegen den Willen ihrer Eltern und allen damit verbundenen Widrigkeiten zum Trotz in Genf die Hebammenschule und gab damit ihrem Leben einen anderen Lauf. Kaum zwanzig Jahre alt, kehrte sie 1928 mit einem Hebammenköfferchen aus Leder und modernen Ansichten über Geburtshilfe ins Wallis zurück und arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Hebamme, anfangs in den Häusern der Familien, zuletzt im Spital von Sierre. Rund 8000 Kinder haben dabei mit ihrer Hilfe das Licht der Welt erblickt.

In dem Buch „Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d`Anniviers“ erzählt Adeline Favre lebendig und konkret von ihrer Jugend und ihrer Ausbildung, vor allem aber von ihrer fünfzigjährigen Arbeit als Hebamme, die oft über die einer Geburtshelferin hinausging, vom Kampf gegen Widerstände, alten Traditionen und Bräuchen. Und immer wieder steht das Schicksal der Frauen und ihrer Kinder im Mittelpunkt, ihre Sorgen, Nöte und Freuden. Sehr eindrucksvoll werden dabei nicht nur die Veränderungen sichtbar, die sich in der Betreuung der Schwangeren und Gebärenden sowie in der Säuglingspflege seit den 1920er Jahren in der Schweiz vollzogen, sondern auch der sich vollziehende Wandel im dörflichen Leben.

Am Ende ihres Arbeitslebens hält Adeline Favre über die gravierenden Veränderungen, die bei den Geburten in den 1970er Jahren eintraten, fest: „Seit die Technik in den Spitälern Einzug gehalten hat, haben sich die Methoden der Geburtsheilkunde vollständig geändert: Die Geburten gehen nicht mehr natürlich vor sich, sie werden gesteuert. Die Mütter, durch die Presse und leider manchmal auch durch medizinisches Personal verunsichert, wissen nicht mehr, wie man ein Kind zur Welt bringt. Die Schwangerschaft gilt als Krankheit und wird auch als solche behandelt.“ (S. 187)

Susanne Perren hat zu dem mit zahlreichen Schwarzweißfotos und Dokumenten illustrierten Buch, das nun in erweiterter Auflage vorliegt, unter der Überschrift „Tante Adeline, Mythos Adeline“ einen einleitenden Text geschrieben (S. 7-19), in dem sie ihre Tante als eine „kühne Frau, den kämpfenden Kühen gleich“ beschreibt. Sie sei eine „moderne Frau“ gewesen, die über ihre traditionellen Wurzeln hinausgewachsen sei, sich aber nie davon gelöst habe. Wörtlich führt sie hierzu weiter aus: „Das typische Nomadenleben hatte sie verinnerlicht. In allen Lebensthemen schritt sie voran; entschlossen, selbstgewiss, immer aufbrechend.“ (S. 12)

Konfrontiert mit der Lebensgeschichte ihrer Tante machte sich die Hebamme Marie-Nöelle Bovier, eine Nichte von Adeline Favre, 1981 einige Gedanken über „Hebammen – gestern und heute“ (S. 189-191). Dabei weist sie auf starke Veränderungen hin, über die sie zusammenfassend festhält: „Die Hebammen meiner Generation sind Teil einer medizinischen Equipe. Die hochentwickelte Technik ermöglicht es, den Unvollkommenheiten der Natur in immer größerem Maß zu begegnen. Was wir jedoch an Sicherheit gewonnen haben, haben wir an menschlichem Kontakt verloren. [...] Wie auf vielen anderen Gebieten setzen wir die Technik auch dort ein, wo Geduld und gute Beobachtung die gleichen Resultate erzielen könnten, und dies mit kleineren Risiken und weniger Kosten.“ (S. 190)

Yvonne Preiswerk, die Herausgeberin der französischen Originalausgabe („Moi, Adeline, accoucheuse“) von 1981, hat dem Buch ein Nachwort (S. 192-205) beigefügt, in dem sie unter der Überschrift „So hat man damals entbunden“ schreibt: „Das ergreifende Buch von Adeline Favre berichtet nicht nur von Geburten, sondern auch vom Leben der Leute in unseren kleinen Städten und Dörfern in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Obschon es viele Perspektiven für die Erforschung der menschlichen Gesellschaft eröffnet, bleiben viele Fragen über das damalige Leben, über die Frauen offen.“ (S. 192) Aus diesem Grund habe sie, wen auch eine eingehende Untersuchung hier nicht möglich sei, dem Lebenslauf von Adeline Favre einige „Ergänzungen“ beigefügt. Gestützt auf Aussagen von Bauersfrauen gibt sie so, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige interessante Hinweise auf das zeitgenössische Brauchtum rund um die Geburt in den Bergtälern um Sierre herum.

Maja Spiess-Schaad, die den Text aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt hat, würdigt Adeline Favre in ihrem „Schlusswort“ (S. 206-207) mit den Worten: „In all den Berichten aus ihrer Berufstätigkeit spürt man ihr großes Engagement für die Frauen ihres Tales, ihrer Umgebung, denen sie zu einem besseren, weniger leidvollen Leben, zu einer Veränderung ihrer Situation verhelfen wollte und auch verhalf. Adeline Favre ist voller Energie, lebendig, spontan. Und so ist auch ihr Buch, das sie nicht schrieb, sondern ihren beiden Nichten erzählte. Ihre Worte sind nicht gewählt, nicht kunstvoll gesetzt. Der Ablauf der Ereignisse folgt nicht immer einer geraden Linie. Nur zu oft kommt eine Erinnerung dazwischen, ein Gedanke steigt auf, manchmal gerät die Geschichte auf einen Nebenweg.“ (S. 206) Bei der Übersetzung ins Deutsche habe sie versucht, den ursprünglichen Ton unverändert zu lassen und auf stilistische Finessen oder Korrekturen bewusst verzichtet.

Das Buch von Adeline Favre, das mittlerweile eine Gesamtauflage von über 120.000 Exemplaren hat, ist nicht nur eine kurzweilig zu lesende Lebensgeschichte einer Hebamme, sondern auch ein wichtiges Dokument zur schweizerischen Medizin-, Pflege und Kulturgeschichte, das ungeschminkt tiefe Einblicke in ein oftmals allzu sehr verklärtes Thema gewährt. Wer die Lektüre deshalb zur Hand nimmt, um darin etwas über die „gute alte Zeit“ zu lesen, wird bitter enttäuscht werden. Denn die Realität, daran lassen die vorliegenden Schilderungen keinerlei Zweifel, sah anders aus; das Leben der einfachen Landbevölkerung war meistens Schinderei und ein steter Kampf ums Überleben.