
Luchsinger, Katrin
Die Vergessenskurve
Werke aus psychiatrischen Kliniken der Schweiz um 1900. Eine kulturanalytische Studie.
Chronos Verlag, Zürich, 2016, 552 S. 71,00 €, ISBN 978-3-0340-1305-5
Die Vergessenskurve
Werke aus psychiatrischen Kliniken der Schweiz um 1900. Eine kulturanalytische Studie.
Chronos Verlag, Zürich, 2016, 552 S. 71,00 €, ISBN 978-3-0340-1305-5
„Untätig, zeichnet viel, schreibt viele Briefe an die Behörden“ (Krankenakte)
„Welche Kraft lässt Blumen derart blühen?“ (Katrin Luchsinger)
Wer mit psychiatrischen Patienten arbeitet, hat regelmäßig Gelegenheit, durch schriftliche und bildliche Mitteilungen faszinierende Einblicke in deren Gedanken- und Gefühlswelt zu erhalten. Auch eine kunstinteressierte Öffentlichkeit trifft immer wieder auf Werke von psychisch kranken Künstlern – bis hin zur viel diskutierten Nähe von Genie und Wahnsinn. Daraus ergeben sich zahlreiche Fragen zum Verhältnis von Krankheit und Kunst im gesellschaftlichen Kontext. Die Kunsthistorikerin und Psychologin Katrin Luchsinger hat sich in ihrer Dissertation diesem Themenkomplex am Beispiel der Schweizer Institutionen für psychisch Erkrankte um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert angenähert. Die von ihr vorgestellten künstlerischen Werke von Patienten dienen dabei auch als Hintergrund zur Veranschaulichung des Diskurses über Normalität im Zusammenhang mit dem Wandel psychiatrischer Einrichtungen, der sich nach der Aufklärung und im entstehenden Sozialstaat vollzog. Luchsinger interessiert sich dafür, „welche gesellschaftliche Dynamik das neue Machtgefüge des Ein- und Ausschließens und Behandelns, das mit dem Konzept einer psychiatrischen Versorgung in Anstalten einherging, für die Kunst und im Hinblick auf ästhetische Fragen entwickelte.“
Im ersten Teil der Untersuchung geht es um „Wechselwirkungen zwischen Psychologie und Kunst im 19.Jahrhundert“. Hier wird zunächst die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und gesellschaftlicher Konvention aufgeworfen: Kunst ist häufig Grenzüberschreitung des Normalen. Eine Radierung von Charles Meryon zeigt 1864 Paris als Stadtansicht mit Gebirge und wogendem Meer – überbordende Einbildungskraft, Darstellung einer Traumlandschaft oder Zeichen von Geisteskrankheit? Zwei Jahre später war der Künstler Insasse der Anstalt Charenton.
Zwischen 1872 und 1880 erschienen erste Studien zur Kunst Geisteskranker; bis etwa 1950 wurden zahlreiche Pathografien über Künstler veröffentlicht, meist von Psychiatern. Die „Degeneration“ der Kunst (1890 veröffentlichte der Kunstkritiker und Arzt Max Nordau die Schrift „Entartung“) wurde Anfang des 20. Jahrhunderts vielfach als Begleiterscheinung der modernen Zivilisation betrachtet. Zur gleichen Zeit entstanden in den Anstalten Museen mit Werken der Patienten, auch in Reaktion auf eine um die Jahrhundertwende aufgekommene Welle der Psychiatriekritik.
Die experimentelle Psychologie, universitär seit 1889 institutionalisiert, verhalf zur objektivierten Darstellung psychischer Prozesse. So unternahm Hermann von Ebbinghaus Versuche, komplexe Vorgänge von Erinnern und Vergessen numerisch zu fassen. Daraus entwickelte er die titelgebende „Vergessenskurve“. Versuche, Halluzinationen oder Synästhesien im Rahmen der psychologischen Forschung darzustellen, stießen immer wieder an Grenzen. Im Bereich der Kunst wurde das möglich: „Die Fähigkeit der synästhetischen Wahrnehmung erlangte in der Kunst der Moderne, besonders im Blauen Reiter, programmatische Bedeutung und wurde trainiert.“
Im zweiten Teil „Die Situation in der Schweiz“ geht Luchsinger auf die Produktionsbedingungen in den Anstalten ein. Die Werke sind in den meisten Fällen anonymisiert und Bestandteil der einem zeitlich unbegrenzten Persönlichkeitsschutz unterliegenden Krankenakte. Die Eigenschaft als künstlerischer Autor steht daher zusätzlich zur ohnehin prekären Identität psychisch Kranker in Frage. Hinzu kommt, dass die Urheber in vielen Fällen gar nicht die Absicht hatten, ein Kunstwerk zu schaffen, augenfällig etwa bei Skizzen von utopischen Erfindungen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden neue Methoden in der Anstaltspsychiatrie eingeführt, die neben der häufigeren Möglichkeit zu temporärer oder endgültiger Entlassung auch kunstpsychologische Ansätze und die Ausbildung des Pflegepersonals umfassten. Über den Einfluss der Pflegenden auf die Förderung und Bewahrung künstlerischer Produktivität ist wenig bekannt. Luchsinger mutmaßt jedoch, dass die Ausbildung der Wärter zu einem Rollenwandel führte, der der künstlerischen Betätigung der Patienten förderlich war. Die Anerkennung als Kunst blieb den Werken jedoch in den meisten Fällen versagt, sie wurden entweder instrumentell als Mittel der Diagnostik und noch seltener auch der Therapie gesehen, oder die künstlerische Betätigung wurde nur neben der neu eigeführten Anstaltsarbeit toleriert. Ab 1920 erfolgte der Paradigmenwechsel zu einer biologisierten Psychiatrie, bei der die medikamentöse Behandlung in den Vordergrund trat.
Den dritten Teil ihres Bandes bezeichnet die Autorin den wichtigsten, auf den die ersten gut 330 Seiten hinführen sollten. Hier werden vier Künstler mit ganz unterschiedlichem Werk eingehend vorgestellt.
Einer von ihnen ist Hermann M., der Wetterdaten, Mahlzeiten und Ereignisse in einer kunstvollen Schrift protokollierte, die im Lauf der Jahre immer ornamentaler wurde. „Es gehört zur Tragik dieses Werks, dass M.s zunehmende Anstrengungen, sich verständlich zu machen und an die Öffentlichkeit zu treten, einher gingen mit wachsendem Unverständnis und Gleichgültigkeit der Ärzte seinem Anliegen gegenüber.“ Luchsinger macht auf die Wechselwirkung von Lebensumständen und Werk aufmerksam, wenn sie spekuliert, dass Hermann M. sich auch deshalb in hermetische Schriftzeichen zurückzog anstatt seine Dichtkunst weiter zu entwickeln, weil ihm sein hauptsächlicher Gesprächspartner mit dessen Aufstieg zum Anstaltsdirektor verloren ging.
Zum Verständnis des Werks von Heinrich B. skizziert Luchsinger den Hintergrund einer innovationsfreudigen Technikentwicklung um die Jahrhundertwende, den Aufschwung von Erfindern und den Niederschlag dieser Phänomene in Kunst, Literatur und Medizin. B.s Zeichnungen von etwa 2000 Erfindungen wurden zu seinen Lebzeiten nicht weiter beachtet, obwohl „B. über die Erfindung hinaus an der Schönheit des Blattes und an der Schönheit mechanisierter Gesten interessiert war.“ Luchsinger bewundert den professionellen Zeichenstil wie auch die Inhalte: „Das Prinzip seiner elektromagnetischen Bahn ist innovativ, und es fragt sich wieder, woher er sein Fachwissen bezog, da er nicht auf Literatur oder Fachartikel zurückgreifen konnte.“
Besonders wertvoll ist an vielen Stellen der Hinweis der Autorin auf die Perspektive und Intention der Künstler. Luchsinger unternimmt jeweils den Versuch, aus dem vermutlichen subjektiven Entstehungskontext den Werken und ihren Urhebern Eigenständigkeit und Autorschaft zurückzugeben. Die von ihr gelieferten kurzen Bildbeschreibungen und -interpretationen sind äußert präzise und aufschlussreich. Über Eugénie P. etwa schreibt sie: „Die Autorin hatte ein dringliches Anliegen und schuf eine Ordnung, ohne überhaupt etwas ausdrücklich sagen zu dürfen: sie erklärte Handeln wie Aushalten für unmöglich.“ Das Werk von Eugénie P. umfasst lediglich vier Blätter und eine Schreibkarte, enthält jedoch eine ganze Welt: Die Diskrepanz zwischen der Herkunft der Patientin, ihrem früheren Zimmer, das sie aus mehreren Perspektiven detailgenau gezeichnet hat, und den Zuständen in der Maison de santé de Préfargier, die sie als „elende Spelunke“ beschreibt, werden anhand der Faksimiles und Luchsingers Entschlüsselungen plastisch vor Augen geführt.
Das Buch enthält 189 Abbildungen und 36 Farbtafeln, die sorgfältig ausgewählt und gut in den Text integriert sind. Sie veranschaulichen sehr eindrücklich die Vielfalt des künstlerischen Schaffens der psychiatrischen Patienten. In über 1700 Fußnoten werden wertvolle weiterführende Hinweise gegeben, ergänzt durch ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis. Was fehlt, zumal viele Namen an unterschiedlichen Stellen im Buch auftauchen und Themen wiederaufgenommen werden, ist ein Namens- und Stichwortverzeichnis. Dieses Manko wird durch den guten Fußnotenapparat gemildert, in dem sich Luchsinger auch vor Wiederholungen nicht scheut.
Katrin Luchsinger behandelt ihr Thema umfassend, detailreich und in lebendigem Stil. Sowohl psychiatriegeschichtlich als auch an moderner Kunst Interessierte werden ihn mit Gewinn lesen, weisen doch die Hintergrundinformationen und die einordnenden Überlegungen der Autorin weit über den räumlichen und zeitlichen Gegenstand der Arbeit hinaus.
Eine Rezension von Martin Braun