Pflegewissenschaft in der Praxis ( Käppeli, Silvia(Hrsg.))Verlag Hans Huber, Bern. 2011, 312 S., 32,95 €, ISBN 978-3-456-84898-3Rezension von: Christiane Pinkert |
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Nach fast 25 Jahren der zum Teil mühevollen Entwicklung und Etablierung von Pflegewissenschaft und Pflegeforschung in den deutschsprachigen Ländern ist es der Herausgeberin dieses Buches ein Anliegen, die Bemühungen der letzten Jahre aus der Perspektive von Expertinnen und Experten aus dem Feld, die diese Entwicklung unterstützt oder mit vorangetrieben haben, kritisch zu reflektieren. Dabei werden die erreichten Erfolge, aber auch Rückschläge und Stolpersteine in den Blick genommen. In die Betrachtung der Autorinnen und Autoren fließen zum Teil sehr persönliche oder ihrem spezifischen Aufgabenfeld entspringende Einsichten ein.
Pflegewissenschaft und Pflegepraxis sind nicht "zwei Welten", so die Grundannahme des Buches. Vielmehr gehören sie als Handlungsfelder beide zur Praxisdisziplin Pflege und sind daher auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet: die Verbesserung der Qualität pflegerischer Versorgung. In dem Buch wird dargelegt, wie Pflegewissenschaft und Pflegepraxis sich aufeinander beziehen und sich gegenseitig beeinflussen und bereichern (können), und wie der häufig wahrgenommene Graben zwischen Theorie und Praxis überwunden werden kann. Dies geschieht vor dem Hintergrund verschiedener beruflicher und persönlicher Erfahrungskontexte der Autorinnen und Autoren.
Die Herausgeberin Frau Dr. phil. Silvia Käppeli (PD, PhD) ist eine schweizerische Pflegewissenschaftlerin, die zunächst als Krankenschwester in der Schweiz, aber auch in Griechenland und Israel gewirkt hat. Sie hat in den frühen 1980er Jahren in Großbritannien ihre akademische Ausbildung erlangt und sich fortan für die Pflegebildung und Pflegeforschung stark gemacht. Frau Käppeli leitet seit 1987 das Zentrum für Forschung und Entwicklung in der Pflege (ZEFP) am Universitätsspital in Zürich und ist Lehrbeauftragte an verschiedenen deutschsprachigen Universitäten. Ihre Arbeits- und Publikationsschwerpunkte sind vielfältig.
Das Buch ist in sechs Kapitel unterteilt, die jeweils zwei bis drei Beiträge
enthalten.
In dem ersten Unterkapitel "Höhere Fachausbildungen in der Pflege: erste wissenschaftliche Impulse" skizziert Annemarie Kesselring die Entwicklung der Höheren Fachausbildung in der Pflege (HöFa1 und HöFa2). Sie fokussiert dabei vor allem die Veränderung des beruflichen Selbstverständnisses von einer verrichtungsorientierten Pflege vor der HöFa über eine allmähliche Emanzipierung der Pflege (vor allem von der Medizin) bis hin zu einer psycho-sozial geprägten und auf die Lebenswelt der zu Pflegenden ausgerichteten Pflege. Die Etablierung der HöFa in der Schweiz brachte die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Fragestellungen und Theorien mit sich und verhalf den Pflegenden zu einer Stärkung ihres beruflichen Selbstwertes. Kritisch resümierend plädiert Annemarie Kesselring für eine Weiterentwicklung der Pflege, die auch den aktuellen Erfordernissen von Interdisziplinarität sowie ökonomischen und ethischen Herausforderungen angemessen begegnen kann.
Das zweite Unterkapitel zu "Differenzierung beruflicher Funktionen in der Pflege als Herausforderung und Chance" von Iris Ludwig und Monika Schäfer handelt von den Ausdifferenzierungen beruflicher Kompetenzfelder und Qualifikationen als Reaktion auf Veränderungen im Schweizer Dienstleistungszweig Pflege, die durch Kostendruck und neue Versorgungsmodelle entstehen. Der Wert der Pflegewissenschaft wird in diesem Kontext in Bezug auf die unterschiedlichen Funktionen und Positionen, die Pflegewissenschaftlerinnen einnehmen können, diskutiert.
Im dritten Unterkapitel "Qualifikationsmix in der Gesundheits- und Krankenpflege in Österreich - Status quo und Zukunft" stellen Elisabet Rappold und Ingrid Rottenhofer ausführlich die gegenwärtige, sehr heterogene Berufsgruppenzusammensetzung im österreichischen Gesundheitswesen vor. Ausgehend davon formulieren sie Anforderungen an einen zukünftigen Qualifikationsmix, der einerseits die demografische und epidemiologische Situation der Bevölkerung berücksichtigt und andererseits zu einer nachweislich verbesserten Versorgungsqualität führt.
Silvia Käppeli stellt im ersten Unterkapitel "20 Jahre Pflegewissenschaft in der Praxis" eine Chronik der Akademisierung der Pflege in der Schweiz zusammen. Nach einer zunächst allgemeinen Analyse der Entwicklung in der Schweiz folgt eine exemplarische Nachzeichnung der Entwicklungswege am Beispiel des Zentrums für Entwicklung und Forschung (ZEPF) am Universitätsspital Zürich.
Im zweiten Unterkapitel "Die Integration der Pflegeexpertinnen in die Strukturen des universitären Pflegedienstes am Inselspital Bern" berichtet Elisabeth Rüdi in einem persönlichen Rückblick von der Etablierung von Pflegeexpertinnen in der Pflege, ihren speziellen Aufgaben und Fähigkeiten, sowie ihrer zentralen Rolle als Brückenbauerinnen zwischen Pflegepraxis und Pflegeforschung.
Das dritte Unterkapitel ""Ja, die Freiheit ist vielleicht im Geist da - aber nicht in der Praxis": Dilemmata der Qualitätsentwicklung in der stationären Altenpflege - Akademisch ausgebildete Pflegekräfte: ein Beitrag zur Lösung?" von Ulrike Höhmann stellt einen Forschungsbericht über eine explorative Studie dar, die Umsetzungsprobleme bei der Einführung von Qualitätsmanagement-Konzepten in Altenheimen untersucht hat. Sie kommt zu dem Schluss, dass den Qualitätsbemühungen, die oft nur aus formalen Verfahrensorientierungen bestehen, pflegefachliche Inhalte und bewohnerorientierte Pflege- und Betreuungskonzepte fehlen. Dieser Mangel ließe sich durch Pflegewissenschaftlerinnen beheben, wenn diese in definitionsmächtigen Positionen für eine pflegewissenschaftliche Perspektive eintreten.
Hilde Schädle-Deininger beschäftigt sich im ersten Unterkapitel mit der "Pflegepraxis als Ergebnis des Nachdenkens - Auswirkungen von Pflegewissenschaft auf die alltägliche praktische Arbeit". In ihrem kritischen Beitrag macht sie am Beispiel der psychiatrischen Pflege deutlich, wie pflegewissenschaftliche Erkenntnisse den pflegerischen Alltag bereichern können. Sie stellt jedoch auch fest, dass Theorie und Praxis oft noch als Gegensätze und nicht als zwei Seiten der gleichen Medaille gelten.
Im zweiten Unterkapitel "Die Problematik praxisorientierter Forschung und forschungsorientierter Praxis" betont Hanna Mayer die unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten und Handlungslogiken von Wissenschaft und Praxis, die es nicht zu überwinden, sondern anzuerkennen gilt. Sie warnt in ihrem Beitrag davor, die Anwendung und Anwendbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Dogma zu erheben, damit die Wissenschaft nicht zur Kontrollinstanz der Praxis und die Praxis nicht zur Legitimationsinstanz der Wissenschaft wird.
In ihrem Aufsatz "Strategische Ausrichtung und Aufgaben eines innovativen Pflegemanagements" geht Astrid Elsbernd der Frage nach, in welchen Handlungsfeldern das Pflegemanagement explizites Fachwissen und fachspezifische Managementstrategien benötigt, um Pflege und Betreuung von Patienten und Bewohnern auf einem hohen fachlichen Niveau zu ermöglichen. Der Beitrag macht deutlich, dass Pflegemanagement-Handeln von einer stärkeren Anbindung an pflegewissenschaftliche Diskurse profitieren könnte, Forschungen in dem Themenfeld in Deutschland aber, anders als z.B. in den USA, noch kaum vorhanden sind.
Im zweiten Unterkapitel beschreibt Birgit S. Etzel die "Umsetzung eines wissenschaftsorientierten Pflegekonzeptes in einer Klinik für Onkologie". Der detaillierte Beitrag liefert darüber hinaus auch Einblicke in die Tätigkeitsfelder einer "Direktorin für Pflegedienst und Pflegeforschung", die die Realisierung von Forschungsprojekten, die Entwicklung von Fort- und Weiterbildungsangeboten und das Personalmanagement umschließen.
Der dritte Beitrag dieses Kapitels "Der lange Weg vom Wissen zum Handeln" von Berta Schrems thematisiert Übersetzungsschwierigkeiten von wissenschaftlichen Erkenntnissen in praktisches Handeln und die Rolle, die Akteure der Pflegewissenschaft und des Pflegemanagements dabei einnehmen. Die Grundlage der Analyse stellen sowohl Literatur und Forschungsergebnisse, als auch langjährige berufliche Erfahrungen der Autorin dar.
Im ersten Unterkapitel "Integration der Pflegewissenschaft in eine Fakultät für Medizin" schildert Christel Bienstein ihre langjährigen Erfahrungen in der Entwicklung und Etablierung einer pflegewissenschaftlichen Disziplin innerhalb einer medizinischen Fakultät. Ihr Beitrag verschweigt die Hürden und Schwierigkeiten nicht, die diese Entwicklung erschwert haben. Er stellt jedoch auch die lohnenswerten Aktivitäten vor und zieht schließlich eine positive Bilanz der vielfältigen Anstrengungen.
Im zweiten Unterkapitel "15 Jahre Pflegewissenschaft an einer Medizinischen Fakultät aus der Sicht der Curriculumsbeauftragten" schildert Angelika Zegelin ihre persönlichen Eindrücke und Erlebnisse im Pflegestudiengang Pflegewissenschaft. Ihre Erfahrungen machen deutlich, dass Pflegewissenschafts- und Medizinstudenten unterschiedliche Perspektiven und Schwerpunktsetzungen haben, jedoch von gemeinsamen Veranstaltungen und Orientierungen profitieren können.
Im dritten Unterkapitel "Wem gehört der Patient? - Transdisziplinäre Ansätze zur Patientenorientierung" diskutiert Iren Bischofberger vor dem Hintergrund des Schweizer Gesundheitswesens Herausforderungen und Merkmale von Patientenorientierung. Sie stellt dabei vor allem die Rolle von Pflegewissenschaftlern heraus, denen die Aufgabe zufällt, die Patientenanliegen partnerschaftlich in das Versorgungsgeschehen zu integrieren.
Das erste, von Frank Weidner gestaltete, Unterkapitel "Grundlagen und Erfahrungen anwendungsorientierter Forschung in der Pflege" widmet sich vor allem Fragen der Forschungsförderung, Projektakquisition und erfolgreichen Verwertungsstrategien von pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Ausführungen von Weidner basieren zum großen Teil auf seinen langjährigen Erfahrungen als Direktor des Deutschen Instituts für Angewandte Pflegeforschung (dip) und machen deutlich, dass trotz vieler Fortschritte in der Etablierung der Disziplin Pflegewissenschaft noch weitere Anstrengungen unternommen werden müssen, damit sich die Pflegeforschung im Konkurrenzkampf um Fördermittel besser positionieren kann.
Im zweiten Unterkapitel "Pflegewissenschaft als Player im Gesundheitswesen" von Renate Stemmer wird beleuchtet, mit welcher Legitimation Vertreterinnen der Disziplin Pflegewissenschaft eine wichtige Rolle innerhalb des Gesundheitswesens, z.B. in der Politik oder Politikberatung beanspruchen. Ihre Bestandsaufnahme der derzeitigen Situation in Deutschland mündet in Forderungen nach mehr Systematisierung und Bündelung von Aktivitäten in Lehre und Forschung.
Das dritte Unterkapitel "Pflegewissenschaft und Pflegeforschung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus Sicht eines Förderers" von Almut Satrapa-Schill ist den über 30 Jahren der finanziellen und ideellen Förderung von professioneller Pflege und Pflegeforschung durch die Robert Bosch Stiftung gewidmet. Satrapa-Schill skizziert die Aktivitäten der Stiftung in fünf Phasen von der Veröffentlichung der Denkschrift "Pflege braucht Eliten" bis zur hin zur Vorstellung eines Memorandums, das die "Verankerung der Pflegewissenschaft und Pflegeforschung an Medizinischen Fakultäten und Universitätskliniken in Deutschland" fordert.
Das Buch enthält eine Fülle von Informationen, kritischen Betrachtungen und zum Teil persönlichen Einschätzungen sowohl zur Entwicklung und Etablierung von Pflegewissenschaft und Pflegeforschung in den deutschsprachigen Ländern als auch zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis in der Pflege. Dabei tauchen in den Beiträgen gelegentlich Redundanzen auf, aber auch Widersprüche und Gegensätze zu Fragen der Definition von Pflegewissenschaft und dem sogenannten Graben zwischen Theorie und Praxis. Gerade die unterschiedlichen Perspektiven aber machen das Buch lesenswert. Denn sie reflektieren die Ergebnisse der zum Teil sehr verschiedenen Entwicklungswege und der unterschiedlichen kulturellen sowie beruflichen Kontexte der Autorinnen und Autoren. Den Beiträgen ist durchaus gemein, so wie der Untertitel des Buches es ankündigt, dass sie kritische Einsichten bieten. Das heißt auch, dass sie deutlich auf Schwierigkeiten, Missverständnisse, Fehlentwicklungen, unzureichende Ergebnisse hinweisen. Aber sie verweilen nicht bei dieser Rückschau, sondern weisen vielfach auch auf zukünftige Aufgaben und Entwicklungsschritte und -chancen hin. Auch darin zeigt sich der Wert dieses Buches, indem es jetzigen und zukünftigen Akteuren in Wissenschaft, Management und Praxis Anregungen und Ideen vermittelt, wie eine weitere Entwicklung der Pflege als wissenschaftliche Disziplin und als gesellschaftlich unverzichtbare Dienstleistung aussehen kann.
Einige kritische Anmerkungen zum Aufbau des Buches: Es lässt sich nicht einfach von vorne bis hinten durchlesen. Dafür sind die einzelnen Beiträge zu unterschiedlich in Ausgestaltung und Abstraktionsgrad. Die Kapitelüberschriften helfen zwar bei der Auswahl von Beiträgen, allerdings versammeln sich unter den nicht immer trennscharfen Überschriften zum Teil Aufsätze, die wenig Verbindendes haben. Das Sachwortverzeichnis am Ende des Buches führt den Leser manchmal in die Irre, da es zum Teil auf einzelne im Text vorkommende Wörter verweist, die dort aber als Konzept nicht näher behandelt werden (z.B. Praxiswissenschaft - Schlussbetrachtung).
Die Lektüre des Buches kann all denjenigen empfohlen werden, die an einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Fragen der wissenschaftlichen Verortung und Weiterentwicklung der Pflege und des Verhältnisses von Forschung und Praxis in der Pflege interessiert sind. Sie werden in diesem Buch anschauliche und detailreiche Beiträge finden.