Einführung von ethischen Fallbesprechungen - Ein Konzept für die Pflegepraxis (Rezension)

Einführung von ethischen Fallbesprechungen - Ein Konzept für die Pflegepraxis (Riedel, Annette et al. )

Jacobs Verlag Lage 2011, 199 S., Taschenbuch, 19,90 €, ISBN 978-3-89918-201-9

Rezension von: Irmgard Hofmann M.A. (phil)

Das Buch entstand im Rahmen eines Projektes mit einem großen Altenhilfeträger, dessen Anliegen und Ziel darin bestand, "Instrumente zum Umgang mit kritischen Situationen im Pflegealltag zu entwickeln" (9). Den Autorinnen wurde als wissenschaftlichen Begleiterinnen des Projektes schnell deutlich, "dass in der Praxis ein umfassendes Verständnis von wertegeleitetem Handeln benötigt wird und damit viel mehr als nur die Implementierung eines spezifischen Instrumentes." (7) Diese Erkenntnis wurde in diesem Buch umgesetzt, das in drei große Kapitel untergliedert ist.

Das erste Kapitel "Konzepte für die Pflegepraxis: Theoretische Einführung in die Konzeptentwicklung pflegerischer Arbeit" gibt Auskunft darüber, warum Pflegekonzepte für professionelles Handeln als wichtig angesehen und wie sie systematisch entwickelt werden (können). Die einzelnen Elemente der Konzeptentwicklung sowie das methodische Vorgehen werden kurz und prägnant erläutert sowie verschiedene Instrumente vorgestellt, die ein Konzept erst lebendig werden lassen. Am Ende des Kapitels wird darauf hingewiesen, dass die Entwicklung - und mehr noch die Implementierung - von Pflegekonzepten eine anspruchsvolle, herausfordernde und innovative Arbeit sei, die wissenschaftlich bislang zu wenig unterstützt werde.

Im zweiten Kapitel werden die theoretisch beschriebenen Elemente umgesetzt für ein "Konzept zum ethisch reflektierten und ethisch begründeten Handeln in der Pflegepraxis", ohne dabei auf ein bestimmtes Praxisfeld Bezug zu nehmen. Vielmehr ist es den Autorinnen ein Anliegen, das Konzept so aufzubauen und zu erläutern, dass es von den verschiedenen Einrichtungen den eigenen Gegebenheiten gemäß individuell angepasst werden kann.
Fünf aufeinander aufbauende Schritte werden beschrieben. Der "Begründungsrahmen" erfasst und beschreibt die Problemanalyse sowie die sich daraus ergebenden Erkenntnisse und Folgerungen. Die "theoretische Verankerung" verweist auf die Notwendigkeit von Literaturanalyse, der Entwicklung möglichst klarer Begrifflichkeiten sowie einer konkreten Zielvorgabe des Konzeptes. Verschiedene Modelle zur Ethikberatung mit ihren Vor- und Nachteilen werden vorgestellt und die Autorinnen entscheiden sich für eine Ethikberatung nach der "Nimwegener Methode" von Gordijn und Steinkamp, weil dieses Verfahren "in unterschiedlichen Kontexten interessante und zielführende Aspekte im Zusammenhang mit ethischem Handeln in der Pflegepraxis aufweist." (80) Die Nimwegener Methode baut auf den vier mittleren Prinzipien der amerikanischen Medizinethiker Beauchamp und Childress (Respekt vor Autonomie, Wohltun, Schaden vermeiden, Gerechtigkeit) auf. Die Autorinnen verweisen allerdings zu Recht darauf, dass diese Prinzipien (nicht nur) im pflegeethischen Zusammenhang präzisiert und ergänzt werden müssen, um überhaupt sinnvoll angewendet werden zu können.

Der dritte Abschnitt befasst sich mit "Ziele des Konzeptes zum ethisch reflektierten Handeln in der Pflegepraxis" (92). Zunächst gilt es ein übergeordnetes Konzeptziel für die Einrichtung zu formulieren, woraus sich drei Unterziele ableiten lassen sollen: für den pflegebedürftigen Menschen, für die professionell Pflegenden sowie für die Ebene der Organisation.

Im vierten Teil werden Methoden, Verfahren und Instrumente vorgestellt, die die Konzeptumsetzung im Praxisalltag unterstützen sollen. Für die ethische Fallbesprechung werden vier Instrumente aufgebaut: zur "Identifikation einer ethischen Fragestellung", zur "Formulierung der ethischen Fragestellung", zur "Strukturierung der Fallbesprechung" sowie zur "Dokumentation und Ergebnissicherung". Diese Instrumente sind wichtig und hilfreich, um eine strukturierte Falldiskussion überhaupt zu ermöglichen. Eine kritische Anmerkung an dieser Stelle zum "Identifikation einer ethischen Fragestellung": Bei der "Prüfung des Wertebezugs" (101) soll festgestellt werden, ob Werte beteiligt sind. Bei der "Nein-"Antwort wird als Hinweis formuliert "ein klarer Organisations-/Institutionsbezug liegt vor". Das suggeriert, dass organisatorische/institutionelle Fragen nichts mit Werten zu tun hätten - was eine drastische Fehleinschätzung darstellen würde. Natürlich liegt allen organisatorischen und institutionellen Entscheidungen auch ein Wertesystem zugrunde, das ist bereits durch die Trägerschaft vorgegeben. So werden in kirchlichen Einrichtungen andere Prioritäten gesetzt als in Einrichtungen, deren Träger gewinnorientierte Aktiengesellschaften sind. Vermutlich soll mit dieser Unterscheidung darauf hingewiesen werden, dass es bei der individuellen Fragestellung nicht immer möglich ist, das organisatorische Gesamtspektrum in den Blick zu nehmen, aber das müsste dann weniger missverständlich formuliert werden.

Der fünfte Abschnitt schließlich befasst sich mit den "Rahmenbedingungen zur Umsetzung des Konzeptes". Es wird darauf verwiesen, dass es sich bei Ethik nicht um eine neue Handlung, sondern vielmehr um eine Grundhaltung der Bereitschaft zu ethischer Reflexion handelt. Um diese in einer Einrichtung handlungsleitend umzusetzen, müssen sowohl die organisatorischen Rahmenbedingungen auf allen (Hierarchie-)Ebenen als auch die individuelle Bereitschaft der Mitarbeiterinnen in den Blick genommen werden. Es bedarf also der Kombination von "top down"- Elementen mit "bottom up" - Elementen.

Das dritte Kapitel schließlich stellt den Anspruch, ein "vollständiges Einrichtungskonzept" in vier Teilaspekten (137) zum Umgang mit ethischen Fragen exemplarisch darzustellen. Vom "Sinnzusammenhang zwischen theoretischen und praktischen Aspekten" über die Integration des Konzeptes in den Pflegealltag hin zu dessen konkreter Anwendung sowie der erforderlichen Rahmenbedingungen werden alle Elemente erfasst und argumentativ beschrieben. Dieses letzte Kapitel wird in einem fast euphorischen Ton formuliert. Es liest sich, als wenn mit der Darstellung eines kompletten Konzeptes schon der größte Teil der Implementierung geschafft wäre.

Diese Hochstimmung stößt bei der Rezensentin, die seit vielen Jahren ethische Fallbesprechungen durchführt und lehrt, auf erhebliche Skepsis. Vielleicht liegt es daran, dass das Konzept, dessen theoretische Entwicklung mit viel Arbeit und Zeitaufwand verbunden ist, letztlich nur eine Grundlage darstellt. Auch wenn das vollständige Konzept theoretisch entwickelt ist, bedarf es noch der konkreten individuellen Anpassung an die jeweilige Einrichtung, was erneut viele Ressourcen beansprucht. Zwar wird in den "Rahmenbedingungen" aufgezeigt, dass die Organisation die Ressourcen dafür bereit stellen soll, doch zu welchen Ergebnissen führt ein umfangreiches, teuer entwickeltes Konzept, wenn einerseits dessen Implementierung von der Organisation gefordert wird, die Ressourcen dazu andererseits nicht bereit gestellt werden? Auch das ist eine (organisations-)ethische Frage.

Fazit: Eine formale, logisch begründete und strukturierte Konzeptentwicklung zur Einführung von ethischen Fallbesprechungen ist gelungen. Die Entscheidung für die Nimwegener Methode ist transparent und nachvollziehbar, die Orientierung an den gewählten Prinzipien Autonomie, Wohltun, Nicht schaden und Gerechtigkeit sind dieser Entscheidung geschuldet, gleichwohl scheinen mir die Prinzipien "Wohltun" und "nicht schaden" als keinesfalls hinreichend für eine ethische Analyse, da sie inhaltlich grundsätzlich abhängig sind vom Auge des Betrachters. Das wird z.B. in der angewandten Fallgeschichte deutlich, als "Schaden" nur aus der Perspektive der Pflegenden betrachtet, der Patient aber gar nicht danach gefragt wird, was er selbst als "Wohltun" bzw. "Schaden" erlebt. Seine Perspektive scheint also für die ethische Beurteilung nicht relevant - ein nicht zu unterschätzendes Defizit im "Instrument zur Formulierung der ethischen Fragestellung".
Ein Verdienst dieses Buches ist sicherlich der sehr umfassende Hinweis auf die vielen Aspekte, die erforderlich sind, wenn eine Einrichtung sich tatsächlich auf eine Konzeptimplementierung einlässt und sich Ethikberatung nicht nur als "Feigenblatt" auf die Fahnen schreibt. Andererseits scheint es mir gerade für kleinere Einrichtungen nicht leistbar, der Anspruch ist einfach zu hoch für die Ressourcen, die üblicherweise bereitgestellt werden.

Den Autorinnen nach richtet sich das Buch an Pflegepraktikerinnen, meiner Beurteilung nach ist das wenig zielführend. Wirklich empfehlenswert dagegen ist es für Studierende in allen Bereichen des Pflege- und Gesundheitswesen, da es gleichermaßen die Auseinandersetzung mit Konzepten, organisationellen Rahmenbedingungen sowie Ethik fördert.