Qualitätsindikatoren für die stationäre Altenpflege (Brechtel, Thomas und Ralf Zöll)
Düsseldorf, 2010, 37 Grad Analyse und Beratung GmbH, 105 Seiten, ISBN:
Rezension von: Prof. Dr. Hermann Brandenburg
Das Thema ist nicht zuletzt durch die Reformdebatte bezüglich der Transparenzkriterien
des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände für die Praxis von
hoher Bedeutung. Gegenwärtig liegt eine wissenschaftliche Analyse zur Beurteilung
der 82 Items des Prüfbogens vor (Hasseler et al. 2010). Darüber hinaus
wurden explizit für die stationäre Altenhilfe Qualitätsindikatoren
erarbeitet, die bereits der Öffentlichkeit vorgestellt wurden (Wingenfeld
2010). Dies ist der Kontext, in dem die Arbeit von Brechtel & Zöll
verortet werden muss. Neben der politischen und der bereits betonten praktischen
Relevanz hat das Thema vor allem methodisch-wissenschaftliche Bedeutung. Gerade
in diesem Feld gibt es in Deutschland wenige Erkenntnisse. Hierzu muss auf Forschungsbefunde
im Ausland zurückgegriffen werden. Es ist wichtig, dass die methodische
Diskussion in Deutschland neue Anstöße erhält und kritisch über
Möglichkeiten und Grenzen von Qualitätsindikatoren nachgedacht wird.
Dies ist die Erwartung, die an das Buch gerichtet wird.
Vorneweg: Der erste Blick auf das Buch irritiert. Es erscheint im Eigenverlag
(und keinem etablierten wissenschaftlichen Verlag), die Autoren sind Geschäftsführer
einer Firma, die im Feld Beratung anbietet und das vorgelegte Instrument (ausgewählte
Pilot-Indikatoren bezogen auf einzelne klinische Felder wie z. B. Stürze,
Ernährung etc.) ist unvollständig abgebildet und kann nur gegen Gebühr
bezogen werden. Aufgrund dieser Tatsachen hat man den Eindruck, dass im Vordergrund
der Verkauf einer Geschäftsidee steht und nicht eine methodisch-wissenschaftliche
Analyse. Aber ein genaues Studium des Textes zeigt, dass sich beide Autoren
im Feld gut auskennen und einen ersten Diskussionsvorschlag unterbreiten, der
es lohnt weiter beachtet zu werden. Ich komme zu diesem Punkt abschließend
noch einmal zurück.
Wie ist das Buch aufgebaut? Auf 101 Seiten werden vor allem vier Themenfelder
angesprochen. (1) Ausgangslage der Indikatorenentwicklung in der Pflege, (2)
Entwicklung von Indikatoren, (3) Bewohnerbefragungen, (4) Ergebnisdarstellung,
Dokumentation und Umgang mit den Ergebnissen.
Bei der Beschreibung der Ausgangslage wird zunächst der rechtliche
Hintergrund erwähnt und auf § 113-115 SGB XI Bezug genommen. Explizit wird die (methodische) Kritik
an den bisherigen Messungen des MDK thematisiert. Hingewiesen wird auf das Problem
der fehlenden Gewichtung der Items und des geringen Skalenniveaus (welches streng
genommen keine Durchschnittswertbildung zulässt), auf die fehlende Risikoadjustierung
(welches nicht nur methodisch eine Herausforderung darstellt) sowie die fehlende
Literaturfundierung im Bereich der Pflegequalität (und damit eines fehlenden
theoretischen Rahmens dahingehend, was eigentlich Pflegequalität ist -
und was nicht). Insgesamt kommen die Autoren (der Studie von Hasseler et al.
2010 folgend) zu einem kritischen Resümee: Es liegen keine Daten zur Reliabilität
(Zuverlässigkeit) des Verfahrens vor, diese kann daher gegenwärtig
nicht bewertet werden (S. 19).
Der folgende Abschnitt diskutiert einige Anforderungen, die mit der Entwicklung
von Indikatoren verbunden sind. Zunächst wird auf die Arbeit von Elsbernd
et al. (2010) verwiesen und die hinweisende Funktion von Qualitätsindikatoren
betont. Denn: Qualitätsindikatoren haben ausschließlich "Flaggenfunktion"
und können nicht mit "guter" oder "schlechter" (Pflege-)Qualität
gleichgesetzt werden. Hierzu wird ein entsprechendes Beispiel gebracht, aus
dem hervorgeht, dass die bloße Anzahl von Stürzen allein wenig aussagefähig
ist, sondern die Beachtung des Sturzrisikos (und damit der Bewohnerpopulation
und deren Risiken) zwingend ist. Ebenfalls wird auf die Notwendigkeit einer
vernetzten Sichtweise aufmerksam gemacht, denn die "Betrachtung eines einzelnen
Parameters allein ist oftmals nicht in der Lage, ein verlässliches und
umfassendes Urteil über Qualität zu erzeugen" (S. 20). Insgesamt
erfolgt eine Orientierung an den Standards des Ärztlichen Zentrums für
Qualität in der Medizin (ÄZQ), welches 2009 ein Manual zur Entwicklung
von Qualitätsindikatoren vorgestellt hat. Dazu gehören u.a. die Auswahl
inhaltlicher Themenbereiche (mit Unterstützung eines Expertenpanels), die
Definition eines expliziten Qualitätsziels auf der Literatur, die Formulierung
eines Analyseplans (inklusive Stichprobenbildung) sowie die Bestimmung von Referenzwerten.
Dieser letzte Punkt scheint mir sehr bedeutsam, denn gerade in diesem Bereich
gibt es erhebliche Defizite in der bundesdeutschen Diskussion. Denn: Was ist
wirklich gewonnen, wenn man weiß, dass die Bewohner in einer Einrichtung
häufiger stürzen als in einer anderen Institution? Es kommt darauf
an die Vermeidung von Stürzen im Kontext anderer Ziele einer guten Altenpflege
zu gewichten. Konkret: Wenn man die Sturzgefahr völlig beseitigen möchte,
dann muss man letztlich den Bewegungsspielraum und den Freiheitsgrad der Bewohner
einschränken - bis hin zur Fixierung. Dies kann niemand wollen, zeigt aber
wo ein Problem liegt, nämlich in der fehlenden oder unklaren Festlegung
von Referenzwerten. Wichtig ist der Hinweis auf die "Grenzen der Qualitätsmessung
mit Indikatoren" (S. 26 ff.) - und die damit verbundene Notwendigkeit der
Mehrfachmessung (um "Fehlalarme" zu vermeiden). Erwähnt werden
sollte auch der Aspekt der Erweiterung der objektivierten Sichtweise durch die
subjektive Perspektive von Bewohnern. Es folgen Hinweise zur Bewertung von Indikatoren
und eine abgewogene Einschätzung der Vor- und Nachteile von Prozess- und
Ergebnisindikatoren (ergänzt um Beispiele aus der eigenen Praxis).
Ein eigenes Kapitel wendet sich der Notwendigkeit von Bewohnerbefragungen
zu. Es wird betont, dass damit "möglichst zielgenau Wünsche und
Vorstellungen, Interessen oder das Ausmaß der Zufriedenheit sowie die
Beurteilung bestimmter Merkmale aufgearbeitet werden" (S. 52). Für
den Bereich der stationären Altenpflege wird die Bewohnerbefragung des
MDK erwähnt und darauf hingewiesen, dass diese methodisch angezweifelt
wird. Ein erheblicher Aufwand sei notwendig um eine komplette Neukonstruktion
(auch auf der Basis vorhandener Instrumente) leisten zu können. Insgesamt
erscheint dieses Kapitel inkonsistent. Einerseits werden z.T. grundlegende methodische
Kritikpunkte an der herkömmlichen Zufriedenheitsmessung zur Sprache gebracht,
andererseits wird (aus "einer eher pragmatischen Orientierung heraus")
genau dieses Instrument (18 Items au der Bewohnerbefragung des MDK) vorgeschlagen.
Was denn nun? Und es kommt hinzu, dass die methodische Kritik in der Logik der
Konstruktion quantitativer Testverfahren verbleibt. Die grundsätzliche
Kritik an Bewohnerbefragungen alter Menschen im stationären Kontext, wie
sie u.a. von Kelle in Marburg (vor allem unter Berücksichtigung der Merkmale
einer "totalen Institution") formuliert wurden, wird nicht erwähnt.
Bezüglich der Ergebnisaufbereitung und des entsprechenden Umgangs mit
den Daten werden u.a. zwei wichtige Gesichtspunkte angesprochen. Erstens wird
erwähnt, "dass die Ergebnisse, die außerhalb der festgelegten
Referenzbereiche liegen, im Wege einer pflegefachlichen Arbeitsgruppendiskussion
untersucht und erst danach bewertet werden (müssen)" (S. 75). Dieser
Gesichtspunkt verweist auf die Notwendigkeit einer heiminternen Diskussion der
Befunde sowie ihrer Gewichtung. Zweitens erfolgt ein wichtiger Hinweis im Hinblick
auf die Verwendung der Daten im Kontext eines heimübergreifenden Benchmarkings
(S. 78). Widersprüchlich bleibt aber die Aussage am Ende des Textes: "Dabei
sollte nicht vergessen werden, dass sowohl indikatorengestützte Messungen
als Befragungsinstrumente kein vollständiger Ersatz der Prüfungen
etwas des MDK oder der Heimaufsicht sein sollen. In der Art eines einrichtungsinternen
Qualitätsmanagements können sie als Messinstrumente zur Bewertung
eigener Qualitätsziele, aber auch zum Benchmarking der eigenen Einrichtung
mit anderen beteiligten Institutionen verstanden werden. Diese Vorgehensweise
ist damit als eine Ergänzung zu bestehenden Systemen der Qualitätssicherung
zu sehen, die vorhandene Prüfung nicht ersetzt, wohl aber mit einem datenbasierten,
empirischen Fundament versehen kann." (S. 78). Soweit, so gut. Aber dann
stellt sich natürlich die Frage: Wie viel Qualitätsmanagement verträgt
eine Einrichtung? Vor allem angesichts der ohnehin realisierten anderen Prüfungen,
Kontrollen und Überwachungen. Aber dies ist ein anderes Thema - und ein
weites Feld.
Insgesamt: Ein interessantes Buch mit vielen wichtigen methodischen (auch grundlegenden)
Aspekten. Die Tatsache, dass die beiden Autoren ihr Thema (auch) als Geschäftsidee
vorstellen mag irritieren, darf aber kein grundlegender Kritikpunkt sein. Das
Buch ist vor allem Praktikern (Leitungskräften in der stationären
Altenpflege) zu empfehlen und jenen, die sich einen ersten Überblick über
die methodischen Anforderungen der Konstruktion von Qualitätsindikatoren
verschaffen wollen. Dann muss man weiter ins Detail einsteigen. Und dabei ist
nicht nur eine Orientierung am methodische Prozedere der Ärzteschaft hilfreich,
sondern ebenso eine noch stärkere Einbeziehung pflegewissenschaftlicher
Erkenntnisse, z. B. die Arbeiten des Arbeitskreiseses von M. Rantz und der Forschungsgruppen
an der University of Iowa (Maas, Buckwalter etc.).