Zwischen Tun und Lassen (Geisler, Linus)Mabuse-Verlag, Frankfurt, 2008, 256 S., ISBN: 9783938304594Rezension von: Paul-Werner Schreiner |
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Der Autor des vorliegenden Buches war von 1976 bis 1999 Chefarzt einer Medizinischen Klinik und später Sachverständiger der Enquete-Kommissionen "Recht und Ethik der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages.
Er setzt sich in dem vorliegenden Buch in - vermutlich nicht am Stück entstandenen und auch nicht notwendig am Stück zu lesenden - Essays mit der Situation und den Tendenzen - Visionen - der aktuellen Gesundheitsversorgung auseinander. Themen sind:
Die Ausführungen sind überaus lesenswert. Den Grundtenor artikuliert der Autor gleich zu Beginn im ersten Satz des den Essays vorangestellten Prologs: "Ein Unbehagen, eine verstörende Beklemmung befällt den Beobachter des Feldes der Biomedizin, dessen Grenzen kaum mehr auszumachen sind." (S.9) Wer mit wachem Verstand die Entwicklung der Medizin - der Rezensent benutzt hier bewusst nicht den tendenziösen Kampfbegriff "Biomedizin", aus dem dann der im Untertitel des Buches verwendete Terminus "bioethisch" abgeleitet wird - verfolgt, wird die gut recherchierten Ausführungen mit Gewinn lesen.
Gleichwohl bleibt auch bei dem, der das Geschehen ähnlich wie der Autor kritisch verfolgt, ein Unbehagen zurück; es stellen sich Fragen:
- Vor allem bei den Ausführungen zur Stammzellenforschung kommt man nicht umhin, festzustellen, dass es historisch ähnliche Argumentationsmuster immer wieder gegeben hat. Im Kontext der - ggf. experimentellen - Entwicklung von Therapien wurde immer wieder das Schlimmste orakelt - ein noch nicht so lange zurückliegendes Beispiel wäre die Organtransplantation. Irgendwann waren die Therapien dann Standard - das Nicht-Gewähren ist dann stets himmelschreiendes Unrecht; die Frage der Modalitäten der Organspende ist dafür ein wunderbares Beispiel. Insofern haftet den berechtigt kritischen Fragen zur Stammzellenforschung auch etwas A-Historisches an. Man hätte sich gewünscht, dass der Autor einmal darüber reflektiert, wo die Medizin heute stünde, wenn sich Forscher immer so verhalten hätte, wie er es von den Stammzellenforschern erwartet. Man ist da immer wieder an den klugen Physiologen Hans-Jürgen Bretschneider erinnert, der in einer Podiumsdiskussion einmal sagte, dass viele Probleme nicht bestünden, wenn man die Eizellen in der Frau lassen würde - dies sei aber keine reelle Option. Was man in den Ausführungen von Geisler in diesem Zusammenhang vermisst, ist eine Aussage darüber, auf welche künftigen Therapien zu verzichten sei.
- Noch im Prolog findet sich ein zwar richtiger, aber dennoch problematischer Satz: "So misslingt der modernen Medizin immer mehr ein konsistentes Menschenbild." Hier wäre doch kritisch zu fragen, ob eine Disziplin, die sich verschiedener naturwissenschaftlicher Theorien bedient, aber, wenn überhaupt, nur rudimentär über eine eigene Wissenschaftstheorie verfügt, dazu berufen ist, ein gesellschaftlich handlungsleitendes Menschenbild zu entwerfen. Hier wäre doch das zu reflektieren, was Alfons Labisch unter der medizinischen Deutungsmacht in unserer Gesellschaft beschrieben hat, und es wäre an Dieter Lenzen zu erinnern, der gezeigt hat, dass Ärzte in unserer Gesellschaft eine Funktion übernehmen bzw. diese ihnen angedient wird, die in vergangenen Gesellschaften Priestern zugeschrieben wurde. Und es wäre hier ein Gedanke darauf zu verschwenden, dass Ärzte hier nicht nur Opfer sind, sondern an diesem Geschehen, der Medikalisierung vieler sozialer Bereiche, vortrefflich verdienen.
- Die Ausführungen zur Rolle des Arztes scheinen irgendwie wenig zumindest mit der klinischen Realität zu tun zu haben. Dass es in der klinischen Realität keinen behandelnden Arzt, sondern nur eine Fülle von Spezialisten gibt, die irgendwelche Detailfunktionen im Auge haben, findet keine Erwähnung, ebenso wenig die Tatsache, dass der gute alte Hausarzt eine aussterbende Spezies sein dürfte. Die Umschreibung des guten Arztes (S.116) - "Vielleicht ist es sinnvoll, den guten Arzt einfach als den Arzt zu beschreiben, den wir Ärzte uns selbst wünschen, wenn wir krank geworden sind und Hilfe brauchen." - mutet hier doch etwas arg naiv an. Hier wären ganz andere Fragen zu stellen. Dies betrifft auch die Klage über das nicht mehr so üppige Einkommen der Ärzte - man könnte doch einmal darüber nachdenken, weshalb diejenigen, die die mit Abstand - selbstverständlich nicht selbst finanzierte - teuerste Ausbildung genießen, später weit über proportional verdienen müssen.
- Es ließen sich noch weitere kritische Fragen anfügen. Insgesamt bleibt kritisch anzumerken, dass das ausschließliche Lamentieren über die aktuellen Exzesse biomedizinischen Treibens insofern einen schalen Nachgeschmack hinterlässt, als die Konsequenzen daraus nicht gezogen werden. Dies muss ein im Ruhestand befindlicher Mediziner natürlich auch nicht mehr zwingend tun. Die Konsequenz der Ausführungen in diesem Buch wäre ein offensiver Diskurs über die Begrenzung ärztlichen Agierens; dieser wird aber noch nicht einmal Ansatz geführt - und man hätte zu manchen Stellen gern einmal Mitarbeiter aus der von dem Autor geleiteten Klinik befragt.
Auch wenn aus Sicht des Rezensenten der Autor mit seinen Ausführungen unter dem Gesichtspunkt einer ethischen Reflexion auf halber Strecke stehen bleibt, sei abschließend noch ein positiver Aspekt hervorgehoben. Das Kapitel "Wohl und Wille", in dem es um den Respekt vor der Selbstbestimmung und der Notwendigkeit der Fürsorge geht, hebt sich wohlwollend von vergleichbaren Ausführungen, in denen das Prinzip der Autonomie abgelehnt wird, ab. Linus Geisler entwirft hier das Konzept einer "gestützten Autonomie", die umsetzbar erscheint.