Dameron Report (Kepplinger, Brigitte und Irene Leitner (Hrsg.))Studienverlag Innsbruck, Wien-Bozen, 2012, 318 S., 33,90 €, ISBN 978-3-7065-4947-9Rezension von: Dr. Hubert Kolling |
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Schloss Hartheim bei Alkoven in der Nähe von Linz in Oberösterreich (vgl. www.schloss-hartheim.at; www.de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Hartheim) war während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft - neben Grafeneck in Gomadingen (Baden-Württemberg), Brandenburg an der Havel (Brandenburg), Sonnenstein in Pirna (Sachsen), Bernburg (Sachsen-Anhalt) und Hadamar bei Limburg (Hessen) - eine der sechs NS-Tötungsanstalten der "Aktion T4", in der von 1940 bis 1944 an die 30.000 Menschen ermordet wurden: Patienten/-innen aus psychiatrischen Anstalten, Bewohner/innen von Behinderteneinrichtungen und Fürsorgeheimen, arbeitsunfähige KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter/innen. Die Tötungen erfolgten mit Kohlenmonoxid (vgl. www.de.wikipedia.org/wiki/NS-Tötungsanstalt_Hartheim.
Seit 1995 arbeitet ein Verein die neuere Geschichte von Schloss Hartheim auf. Im Jahr 1997 wurde begonnen, das denkmalgeschützte Gebäude zu restaurieren und eine Ausstellung zum Thema "Wert des Lebens" zu gestalten. Am 7. Mai 2003 wurde dann der "Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim" gemeinsam mit der Ausstellung "Wert des Lebens" eröffnet. Ausstellung und Gedenkstätte bilden heute ein Forum für aktuelle und historische Fragen. Dazu werden pädagogische und politische Bildungsangebote im schulischen und außerschulischen Bereich, in der Jugend- und Erwachsenenbildung und in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Basis der Bildungsangebote ist die wissenschaftliche und pädagogische Arbeit in Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Einrichtungen und mit NS-Gedenkstätten, insbesondere den Euthanasie-Gedenkstätten in Deutschland.
Eines der wichtigsten Dokumente zur Erhellung der Verbrechen, die in Schloss Hartheim während der NS-Zeit gegangen wurden, ist der sogenannte "Dameron Report", der nun - mehr als 60 Jahre nach den Geschehnissen - in einer kommentierten Edition der Öffentlichkeit vorliegt. Der von der Historikerin Andrea Kammerhofer bearbeitete Band wird von der Soziologin Dr. Brigitte Kepplinger vom Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik an der Johannes Kepler Universität Linz und der Historikerin Irene Leitner, Leiterin des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim, herausgegeben und erscheint als Band 1 der Schriftenreihe "Historische Texte des Lern- und Gedenkorts Hartheim".
Das War Crimes Investigating Team No. 6824 der U.S. Army unter der Leitung von Major Charles H. Dameron war im Juni und Juli 1945 in Hartheim tätig, um Beweismittel für die Nachkriegsprozesse der Alliierten zu sichern. Der Abschlussbericht ihrer Untersuchungen galt lange als verschollen, erst 2002 wurde er in den National Archives and Records Administration (NARA), Washington DC, von Andrea Kammerhofer wieder entdeckt. Das Dokument umfasst die detaillierte Beschreibung des Schlosses, ergänzt durch eine Reihe von Fotos, die den Zustand im Juli 1945 dokumentieren, sowie die ausführlichen Befragungen der Zeugen/-innen, die das Team in und um Hartheim ausfindig machen konnte. Ergänzt wird der Bericht durch einen ausführlichen Bildteil mit Fotos aus dem privaten Besitz der Zeugen/-innen, die zum größten Teil aus der Zeit der "Aktion T4" stammen. In seiner Geschlossenheit bildet dieser Bestand an Fotografien ein einzigartiges Dokument des Alltags in der Tötungsanstalt, das in dieser Weise für keinen anderen der sechs NS-Euthanasieorte existiert. Das zeitgeschichtlich bedeutende Dokument war bereits Ausgangspunkt mehrerer Projekte zur Täterforschung, die von dem Soziologen Hartmut Reese, seit 2004 Leiter des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim, initiiert wurden und an denen er bis zu seinem Tod im Jahr 2007 wesentlich Anteil hatte.
Zur Intention und Bedeutung der von ihnen herausgegebenen Publikation schreiben Brigitte Kepplinger und Irene Leitner im Vorwort: "Der Dameron-Report ist aufgrund seiner einzigartigen Zusammenstellung aus Zeugenaussagen, Vernehmungsprotokollen und Fotos von großer Bedeutung für die NS-Euthanasieforschung. Durch seine Veröffentlichung wird dieses Schlüsseldokument nun einer breiten, interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht" (S. 10).
Der Quellenedition vorangestellt ist ein Beitrag von Brigitte Kepplinger und Hartmut Reese, indem sie unter der Überschrift "Massenmord als Arbeitsprozess" (S. 11-22) über die Organisation beziehungsweise die sozialen und technischen Funktionszusammenhänge der Tötungsanstalt Hartheim informieren. Ihren Ausführungen zufolge begann nach der Abwicklung der nötigen Formalitäten - die "Landesanstalt Hartheim" wurde im Wege eines Pachtvertrags an die "Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege" abgetreten - und der anderweitigen Unterbringung der Bewohner/innen der Betreuungseinrichtung Ende März 1940 die bauliche Adaptierung der Liegenschaft für den neuen Verwendungszweck. Dabei wurde im Erdgeschoss des Schlosses in einem Flügel auch die "Tötungsstrecke" eingerichtet. Diese bestand aus einem Auskleideraum für Frauen und Männer, dem sogenannten Aufnahmeraum (in dem die Opfer dem Arzt vorgeführt wurden) mit abgeteilter Fotoecke, der Gaskammer, einem Raum für die technischen Installationen, dem Leichenraum und dem Krematoriumsraum. Wie die Autoren/-innen zeigen, arbeiteten in der Tötungsanstalt Hartheim während der Zeit der "Aktion T4" gleichzeitig 70 Personen, wobei die meisten auch im Schloss wohnten. Während ein Teil des Personals auf Anordnung der Zentraldienststelle aus Berlin und aus anderen Tötungsanstalten stammte, kamen die übrigen Angestellten aus der Region beziehungsweise aus Österreich: Bürokräfte, Handwerker, Busfahrer, Fotografen, sogenannte "Brenner", deren Aufgabe die Beseitigung der Leichname war, und Pfleger/innen. Leitende Prämisse des Verwaltungshandelns sei unterdessen "die umfassende Geheimhaltung" der Todesumstände der Opfer gewesen. Die Kernkompetenz der Verwaltungsabteilung habe dabei im Aufbau einer "fiktiven Realität" bestanden: Abgabeanstalten, Kostenträger und Angehörigen gegenüber sei die Geschichte eines natürlichen Todes der betreffenden Person konstruiert worden.
In der "Logistik des Massenmords" fiel die Tötung der Opfer - konkret die Bedienung des Gashahns - in den Aufgabenbereich eines Arztes. Gleichwohl kam bei dem Geschehen, woran Brigitte Kepplinger und Hartmut Reese keinerlei Zweifel lassen, auch dem Pflegepersonal eine große Bedeutung zu. Dieses hatte unter anderem die Opfer zu entkleiden, dem diensthabenden Arzt vorzuführen, auf der Brust mit einer fortlaufenden Nummer zu stempeln und schließlich in die Gaskammer zu bringen. Dieser Raum mit einer Größe von etwa 25 Quadratmeter war wie ein Brausebad eingerichtet. Eine Pflegerin schildert die dadurch intendierte Täuschung wie folgt: "Wenn sie [die Patienten/-innen] ansprechbar waren, sagte man [gemeint ist das Pflegepersonal] ihnen, sie würden gebadet. Viele freuten sich auf das Baden, auch wenn sie sonst nichts erfassten" (S. 15).
Nach Darstellung der Autoren/-innen wurde die Tötung der Opfer als Arbeitsprozess definiert und organisiert, analog zu den Abläufen eines Industriebetriebes. Eine Konsequenz habe dabei in der Erzeugung moralischer Indifferenz bestanden: "Die Aufteilung der Tötung auf viele verschiedene Schritte, die von jeweils verschiedenen Personen realisiert wurden, erlaubte es den Beteiligten, ihren Beitrag zum Gesamtergebnis als nicht entscheidend zu definieren und damit eine moralische Entlastung zu erreichen" (S. 16).
Alle Beteiligten seien "intensiv und hautnah" mit dem Tötungsprozess konfrontiert gewesen, auch wenn die Intensität ihrer Teilhabe unterschiedlich war. Bemerkenswert ist, dass es sich den erhaltenen Informationen zufolge bei den Beteiligten um "ganz normale Leute" (S. 19) handelte. So seien etwa im Oktober 1940 elf Pfleger/innen aus der Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien in Ybbs nach Hartheim dienstverpflichtet worden, von denen keine/r Mitglied der NSDAP war. Bemerkenswert ist für Brigitte Kepplinger und Hartmut Reese, dass von den Beschäftigten, nach ihrer Konfrontation mit dem Ablauf des Tötungsprozesses, lediglich eine Person um Entlassung beziehungsweise Versetzung ersuchte: Der Pfleger Franz Sitter "verlangte um sofortige Enthebung von der Dienstverpflichtung, als er Einblick gewonnen hatte, um was es eigentlich ging" (S. 19). Daraufhin wurde er nach Ybbs zurückgeschickt und bald darauf zur Wehrmacht eingezogen; er überlebte und war auch nach 1945 weiterhin als Pfleger tätig.
Günter Bischof vom Center Austria - Center for Austrian Culture and Commerce an der Universität New Orleans steuerte unter der Überschrift "Ein bescheidener Gigant" (S. 23-30) zu dem Band einen Nachruf auf Charles H. Dameron (1914-2002) bei. Darin skizziert er den Lebensweg von Dameron, seine Tätigkeit im War Investgating Team No. 6824 der U.S. Army in Hartheim und nicht zuletzt seine Ehrung am 21. März 2001 mit dem Silbernen Ehrenkreuz für Kultur und Wissenschaft durch die österreichische Regierung.
Mit aufgenommen wurde in die Darstellung auch ein Brief von Charles Dameron an seine Eltern (S. 31-37), in dem er am 22. November 1945 eine Einschätzung seiner Arbeit wiedergibt.
Andrea Kammerhofer hat zu der Edition eine Einleitung verfasst (S. 39-64), in der sie zunächst auf die Bedeutung der Quelle für die Forschung hinweist. Da nahezu alle Unterlagen aus der NS-Zeit, die für eine Rekonstruktion der Vorgänge in Hartheim einerseits und für die Opferforschung andererseits hilfreich gewesen wären, Anfang 1945 vernichtet worden sind, sei die Forschung über die Tötungsanstalt Hartheim bis vor wenigen Jahren auf die Unterlagen der Nachkriegsprozesse und die oftmals nicht zur Gänze erhaltenen Unterlagen der Heil- und Pflegeanstalten beziehungsweise der Abgabeanstalten angewiesen gewesen. Von daher sei der Bericht des Untersuchungsteams für Kriegsverbrechen (War Crimes Investigating Team, WCIT) Nr. 6824 unter der Leitung von Major Charles H. Dameron "eine zentrale Quelle für die Hartheimforschung und darüber hinaus ein bemerkenswertes Dokument für die Euthanasieforschung zur NS-Zeit wie allgemein für die Zeitgeschichte des Landes" (S. 39).
Insgesamt betrachtet bietet der "Dameron Report" detailreiche Angaben über die örtlichen Gegebenheiten, das Personal von Hartheim und der "T4"-Zentrale in Berlin, die Abläufe und tödliche Routine im Schloss während der Zeit des Nationalsozialismus. Das Dokument einschließlich des dazu gehörenden Fotobestandes ist dabei umso bedeutender, als von den NS-Funktionsträgern in den letzten Kriegsmonaten nahezu das gesamte Akten- und Fotomaterial vernichtet wurde. Die Veröffentlichung des Dokuments ist sehr zu begrüßen, können uns die Ergebnisse der Befragung von Zeugen/-innen, die Damerons Team durchführte, doch dabei helfen, die Motivation der Täter/innen und das soziale System der Tötungsanstalt adäquater einzuschätzen.