Eine Genealogie der Pflege (Anne Kellner)
Reihe: Pflege und Gesundheit 4, LIT Verlag Berlin 2011, 445 S., 44,90 €, ISBN 978-3-643-11294-1
Rezension von: Irmgard Hofmann, M.A. (phil)
„Die deutsche Pflege ist krank.“ Dieses Eröffnungszitat stellt nicht nur eine reale Zustands-beschreibung dar; es ist gleichermaßen der Ausgangspunkt der Autorin (Pflegepädagogin) zu ihrer Überlegung, dass das Ziel von Pflegepädagogik sein sollte, „widerstandsfähige und zum Widerstand fähige Subjekte“ (Pflegende) herauszubilden. Dies vor dem Hintergrund, dass die Pflege in Deutschland seit über 150 Jahren von einer Normenfalle in die nächste tappt. Die „Normenfalle“ besteht darin, dass bereits mit der Entstehung des Berufes teilweise übermenschliche Erwartungen an die Pflege gestellt wurden (unbegrenzte Arbeitszeiten, Anleitung statt Ausbildung, „endloser“ Dienst am Nächsten ohne Bezahlung) bei gleichzeitiger permanenter Überwachung und „Selbst“-kontrolle. Diese „Selbst“-kontrolle führte und führt dazu, dass gerade engagierte Pflegende nahezu dauerhaft das Gefühl haben, in ihrer Arbeit nicht den Ansprüchen gerecht werden zu können, die an sie gestellt werden. Das liegt bis heute an den Strukturen, wenn z.B. eine an den individuellen Bedürfnissen orientierte aktivierende Pflege verlangt wird, es dafür aber weder eine hinreichende Ausbildung gibt („pflegen kann jeder“), noch eine halbwegs angemessene Personalausstattung finanziert wird. Weitgehend fremdbestimmt durch Wohlfahrtsverbände, Ärzte, Ökonomen und Politik wurde und wird aber eine durchaus zu Recht als unzureichend erkannte Pflege immer noch und immer wieder den Pflegenden als individuelles Versagen angelastet. Pflegende erkennen die darin enthaltenen „Machtspiele“ selten, aber sie verlassen den ursrpünglich mit großem Engagement begonnenen Berufsweg und suchen nach erträglicheren Alternativen.
Kellner analysiert die Normenfallen des Pflegeberufes mit Hilfe des Foucault`schen „Werk-zeugkastens“, insbesondere seines genealogischen und gouvernementalen Instrumentariums. In einem weiteren Schritt versucht die Autorin auf der Basis von Foucalts „Konzept der Regierung des Selbst“ eine pflegepädagogische Linie zu entwickeln, die künftig Pflegende dazu befähigt, sich durch angemessene Selbstsorge zu kritisch-konstruktiven Persönlichkei-ten zu entfalten.
Kapitel 1 geht der Frage nach, ob und wie weit Foucalts Ansatz als mögliche Grundlage für die Pflegepädagogik fruchtbar gemacht werden kann – was sie mit einiger Begeisterung be-jaht.
Kapitel 2 dient der „genealogischen und gouvernementalen Analyse“ und ist in drei Abschnitte unterteilt. In Abschnitt 1 beschreibt Kellner die „Werkzeugkiste“ von Foucault mit seinen einzelnen Inhalten. Abschnitt 2 dient der umfassenden Analyse des Pflegeberufs in seinem geschichtlichen Werden mit Hilfe der zuvor beschriebenen Werkzeuge (Archäologie und Ge-nealogie)– und verhilft dazu, die Machtbeziehungen und Normenfallen in einem – je nach Vorwissen - teilweise neuen Licht zu sehen. Die gouvernementale Analyse der aktuellen Si-tuation ist Gegenstand des 3. Abschnittes. Die „gouvernementale Analyse dient nicht nur der Aufdeckung von immanenten Herrschaftsstrukturen oder der Verschleierung struktureller Gewalt“, sondern auch dem immanenten Wissen, das in Praktiken der Führung und Herr-schaft enthalten ist. Das umfangreiche Kapitel 2 des dritten Abschnittes ist eine Fundgrube für alle berufspolitisch interessierten Pflegenden. Praktisch alle Aspekte der aktuellen Situation der Pflege in Deutschland werden hier dargestellt, analysiert und problematisiert. Es ist – trotz erheblicher Redundanzen – das aus berufspolitischer Sicht eindrücklichste und spannendste Kapitel dieses Werkes.
In Kapitel 3 kommt die Autorin dann zu jenem Teil, der darlegen soll, dass nur die Ermächti-gung der Pflegenden zu widerständigen und widerstandsfähigen, für sich Selbst sorgenden Personen im Sinne Foucalt`scher Pädagogik dazu beitragen wird, dass die Pflege sich all-mählich aus dem Gestrüpp der permanenten Fremdbestimmung befreien kann. Dazu exem-plifiziert Kellner im ersten Abschnitt Foucalts „Konzept der Regierung des Selbst“. Der zweite Abschnitt soll dann dem Entwurf einer „durch Foucalt inspirierten widerstandsfördernden und widerstandsfähigen Pflegepädagogik“ dienen. Leider war dieser letzte Anspruch offenbar zu hoch: Gerade dieses Kapitel, das für Lehrende in der Pflege das Wichtigste sein dürfte, ver-liert sich teilweise erheblich in nebulöser Unklarheit.
Damit zur Kritik:
Den analytischen Ansatz von Foucalt als Grundlage einer emanzipierenden Pflegepädagogik anzuwenden, scheint mir grundsätzlich ein erhellendes und spannendes Unterfangen. Aller-dings gelingt es der Autorin nur sehr unzureichend, die Foucalt`sche „Werkzeugkiste“ in eine für die pädagogische Praxis nachvollziehbare Sprache zu übersetzen. Kellner bleibt dem Sprachsystem von Foucalt komplett verhaftet, was dazu führte, dass auch die philosophisch geschulte Rezensentin nur begrenzt in der Lage war, Inhalt und Bedeutung des Ansatzes tatsächlich zu erfassen. Hier wäre es hilfreicher gewesen, Foucault etwas weniger ausführ-lich, dafür aber verständlicher darzulegen.
Die Analyse der Berufsentwicklung und heutigen Situation der Pflege in Deutschland aus dem besonderen Blickwinkel des genealogischen und gouvernementalen Ansatzes sind sicher die stärksten Anteile des Buches, das gilt besonders für den Teil „Pflege im neoliberalen Kontext“.
Die eigentliche Kritik beruht auf der Erkenntnis, dass sich die Autorin in manchmal endlosen Schleifen wiederholt und Redundanzen einbaut, die das Lesen regelrecht zu einem Ärgernis machen können. Wäre das Ergebnis in der Zusammenfassung in einigermaßen greifbarer Sprache klarer formuliert, hätte die Rezensentin das durchaus in Kauf genommen. Durch eine recht unklare Darstellung der „widerstandsfördernden und widerständigen Pflegepäda-gogik“, die zudem nicht hinreichend deutlich formuliert, dass sie – da sie in erster Linie den Auszubildenden in der Pflege gelten soll – in einer erneuten Normenfalle münden könnte, fällt die Kritik aber nur begrenzt positiv aus.
Dem Buch hätte ein kritisches Lektorat gut getan und das nicht nur wegen der zahlreichen Fehler – insbesondere der Setzung von Kommata. Den Inhalt um vielfältigste Redundanzen und Wiederholungen gekürzt, könnte dieses Buch als wahre Fundgrube für berufspolitischen und pflegepädagogischen Unterricht dienen. In der jetzigen Form dürfte es in erster Linie einem akademischen Zirkel vorbehalten sein. Schade.!