Müller-Busch, H. Christof
Abschied braucht Zeit
Palliativmedizin und Ethik des Sterbens (medizinHuman, Band 14)
Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Berlin, 2012, 295 S., 10,30 €, ISBN 978-3-518-46368-0
Rezension von Dr. Hubert Kolling
Friedlich einschlummern und im Schlaf sanft hinübergleiten, so stellen sich viele Menschen einen „guten Tod“ vor. Die Realität sieht unterdessen zumeist ganz anders aus. Nur etwa 10 Prozent der Menschen sterben hierzulande etwa an einem plötzlichen Herztod, durch einen Unfall oder Suizid, ohne dass medizinische Entscheidungen und Maßnahmen in der Endphase des Lebens erfolgten. Demgegenüber sterben rund 70 Prozent nach einer längeren Phase des Krankseins oder nach einer längeren Phase der Pflegebedürftigkeit im Alter, begleitet von Schwäche und Demenz. Die restlichen 20 Prozent sterben nach einer kurzen Phase des Krankseins, in denen sich das Spannungsfeld zwischen kurativen und palliativen Behandlungsansätzen besonders deutlich zeigt. Während sich die meisten Menschen wünschen, zu Hause zu sterben, stirbt noch immer fast die Hälfte von ihnen in Krankenhäusern und knapp ein Drittel in Pflegeeinrichtungen.
Vor diesem Hintergrund haben im letzten Jahrzehnt die Hospizarbeit und die palliativen Dienstleistungen für die Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen nicht nur im Rahmen der medizinischen Versorgung, sondern auch im Rahmen der ethischen und gesundheitspolitischen Debatte über würdiges Sterben herausragende und von allen Seiten anerkannte Bedeutung gewonnen. Dementsprechend haben sich Profis aus dem Gesundheitssektor und ehrenamtlich Engagierte auf allen Ebenen qualifiziert, um den besonderen Herausforderungen der Begleitung und Versorgung von Sterbenden und deren Angehörigen adäquat zu begegnen.
Es stellt sich freilich immer wieder die Frage, ob man trotz schwerer Krankheit überhaupt in Würde sterben kann. H. Christof Müller-Busch, einer der bekanntesten Palliativmediziner Deutschlands, ist fest davon überzeugt, dass dies möglich ist. In seinem Buch „Abschied braucht Zeit“ plädiert er daher für einen „würdigen Tod“. Dabei geht es ihm nicht nur um Schmerztherapie und Angstlinderung, um Trost und Beistand für die Sterbenden und ihre Angehörigen, sondern auch darum, dem Tod „Raum und Zeit zu geben, seinen Moment zuzulassen.“
H. Christof Müller-Busch war bis 2008 Leitender Arzt am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe (Berlin), wobei Schmerztherapie und Palliativmedizin Schwerpunkte seiner klinischen Tätigkeit waren. Seit 1994 ist er maßgeblich beim Aufbau der Palliativversorgung in Deutschland engagiert. Er ist Sprecher des Arbeitskreises Ethik und war von 2006 bis 2010 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pallitativmedizin (DGP).
Das Buch „Abschied braucht Zeit“ gliedert sich in die folgenden 14 Kapitel:
- Palliativ: Geschichte eines Wortes und einer Idee
- Intensivmedizin und Palliativmedizin – Widerspruch oder Ergänzung?
- Tötung auf Verlangen, ärztliche Beihilfe zum Suizid und Palliativmedizin – eine medizinische und ethische Herausforderung
- Respekt und Autonomie – das Recht des Schwächeren und die Dominanz des Stärkeren
- Essen und Trinken bis zum Abwinken – wie viel Nahrung braucht der Mensch?
- Schmerz bei Sterbenskranken – phänomenologische und therapeutische Aspekte
- Scham, Ekel und Schuld am Lebensende
- Sterbensangst und welcher Tod ist der beste?
- Zeit im Angesichts des Todes
- Was erlebt ein Mensch, wenn er stirbt? Gedanken zum Nahtodphänomen
- Zur Bedeutung der Hoffnung in der Medizin
- Humor bei Sterbenden
- Trauer, Rituale und Angehörige
- Wie ich sterben will – was ist mein guter Tod?
Ergänzt wird die Darstellung durch einen Anhang (S. 278-280), der knappe Hinweise auf empfehlenswerte Internetseiten zum Thema gibt.
Die einzelnen Kapitel des Buches stützen sich auf überarbeitete Vorträge und Publikationen des Autors aus den Jahren von 1996 bis 2011. So stellte er Teile der Kapitel 1, 2 und 4 im Rahmen der Ringvorlesung „Der sterbenskranke Patient“ an der Humboldt Universität Berlin 2002 bis 2008 zur Diskussion. Während sich Teile des Kapitels 5 in dem von Paolo Bavastro veröffentlichten Ratgeber „Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung“ (Bad Liebenzell 2001) wiederfinden, erschienen Teile der Kapitel 3 und 6 in der Zeitschrift für Angewandte Schmerztherapie und Palliativmedizin in den Jahren 2010 und 2011. Das 2. Kapitel basiert schließlich auf einem Beitrag des Autors in dem von Andreas Frewer, Florian Bruns und Wolfgang Rascher herausgegebenen Buch „Hoffnung und Verantwortung – Herausforderungen für die Medizin“ (Würzburg 2010).
„Abschied braucht Zeit“ erscheint als Band 14 in der von Dr. Bernd Hontschik, ehemals Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Frankfurt am Main in Höchst und seit 1991 niedergelassener Chirurg und Unfallarzt, herausgegebenen Reihe „medizinHuman“, die sich als eine Plattform versteht, die spannend und verständlich aktuelle Entwicklungen des Gesundheitswesens und der medizinischen Praxis hinterfragt und für eine Heilkunst plädiert, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, für eine Humanmedizin, die diesen Namen verdient. In seiner Vorbemerkung weist der Herausgeber darauf hin, dass sich die Humanmedizin mit schwerwiegenden Konflikten konfrontiert sieht, die ethischer, politischer, ja philosophischer Natur sind und einer „Haltung“ bedürfen, einer Haltung zur Sterbehilfe, einer Haltung zur Euthanasie, einer Haltung zu spirituellen Kontexten, einer Haltung zur Individualität des Menschen, nicht nur, aber auch in seiner Krankheit und nicht nur, aber auch in seinem Sterben und seinem Tod. Das von H. Christof Müller-Busch vorgelegte Buch werde dazu beitragen, das nicht nur Haltung gefunden werden kann, sondern auch Halt: „Es kann Patienten einen Halt geben, die sich am Lebensende angekommen wissen und ein Gegenüber dringend brauchen, wenn das einsame und würdelose Sterben ein Ende haben soll. Es kann Angehörigen einen Halt geben, denen Begleiten und trennen müssen mehr abverlangt, als sie es zuvor vielleicht ahnen konnten. Es kann Medizinstudenten, es kann junge und erfahrene Ärzte an die Konzeptionen, Widersprüche und Auseinandersetzungen der Palliativmedizin heranführen und ihnen einen Halt geben beim Finden der eigenen Haltung“ (S. 8)
In seiner Einleitung weist H. Christof Müller-Busch darauf hin, dass Palliativmedizin nicht nur ein besonderes medizinisches Konzept, und keineswegs nur eine neue Spezialdisziplin ist, sondern in besonderem Maße auch Wertorientierung bedeutet, in dem sie die Grenzen therapeutischen Handelns respektiert und die Kommunikation über die in den letzten hundert Jahren schmerzlich missachteten und vernachlässigten ethischen Grundlagen medizinischer Moral und menschlichen Miteinanders wieder ins Bewusstsein zu bringen versucht. Nach Ansicht des Autors sollte dabei die mit der Palliativmedizin verbundene Hinwendung zum Menschen und nicht nur zu seinen Krankheiten für eine paradigmatische Rückbesinnung der Medizin wegweisend sein. Das naturwissenschaftlich dominierte Krankheitskonzept müsse daher ergänzt werden durch ein wissenschaftliches Weltbild, das eine Synthese der Natur- und Geisteswissenschaften sowie auch der Sozial- und Kulturwissenschaften zur Grundlage hat.
Das vorliegende Buch sei geschrieben worden vor dem Hintergrund vieler Begegnungen mit sterbenskranken und sterbenden Menschen sowie deren Angehörigen. Zur Entstehung und Bedeutung seiner Schrift hält H. Christof Müller-Busch wörtlich fest: „Das vorliegende Buch ist der Niederschlag meiner Erfahrungen im Umgang mit Sterbenskranken sowie der Gedanken und Erkenntnisse, die mich zu der Überzeugung gebracht haben, dass durch die ‚Wiederentdeckung‘ des palliativen Gedankens in der Medizin ein wichtiger Schritt geleistet wurde, dem Thema Sterben und Tod in der Gesellschaft wieder einen höheren Stellenwert zukommen zu lassen – besonders auch im Hinblick auf die Bestimmung eines würdigen Sterbens. Die einzelnen Kapitel dieses Buches behandeln Fragen und Probleme, die sterbenskranke Menschen und ihre Angehörigen immer wieder bewegen. Neben medizinischen Aspekten ergeben sich dabei vor allem ethische und kommunikative Herausforderungen. Sachliche Informationen sollen die Kommunikation über diese Fragen und Probleme aus unterschiedlicher Perspektive erleichtern. Ein wichtiger Aspekt sind die existentiellen Fragen, die Menschen in der Vorphase des Sterbens auf ganz unterschiedliche Weise beschäftigen, z.B. die Frage eines guten, würdigen Sterbens, die Bedeutung von Nahtoderfahrungen, Hoffnung, Trauer und Ritualen“ (S. 19).
Ausdrücklich betont der Autor in diesem Zusammenhang, dass sein vorliegendes Buch kein „Lehrbuch“ sei und auch nicht den Anspruch erhebe, alle Aspekte zu behandeln, die aus der Sicht sterbenskranker Menschen und in deren Betreuung wichtig sind.
„Abschied braucht Zeit“ gehört zunächst einmal in die Hände von Angehörigen und Begleitern schwerstkranker Menschen. Darüber hinaus kann es aber auch Studierenden und Pflegenden, die sich (vielleicht zum ersten Mal) mit einer Sterbesituation professionell konfrontiert sehen, wärmstens empfohlen werden. Schließlich kann die Lektüre allen ans Herz gelegt werden, die sich – aus welchen Gründen auch immer – mit dem Thema Palliativmedizin näher beschäftigen möchten oder vielleicht auch aus persönlicher Betroffenheit beschäftigen müssen.