Gusset-Bährer - Demenz bei geistiger Behinderung

Gusset-Bährer, Sinikka

Demenz bei geistiger Behinderung

Ernst Reinhardt Verlag, München, 2013, 2., akt. Aufl., 252 S., 29,90 €, ISBN 978-3-497-02271-7

Die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung steigt kontinuierlich und nähert sich allmählich derjenigen der Gesamtbevölkerung an. Somit erhöht sich auch für diesen Personenkreis die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken. Angehörige, Pflegende und Betreuende älterer Menschen mit geistiger Behinderung stehen heute vor der Herausforderung, eine Demenz frühzeitig zu erkennen und die Betroffenen bei der Bewältigung ihres Alltags, der häufig bereits früher schon von einem Spannungsfeld zwischen der eigenen Selbstbestimmung und der Abhängigkeit von anderen Personen geprägt war, zu unterstützen und ihnen ein Altern in Würde zu ermöglichen. Die Diplomgerontologin Sinikka Gusset-Bährer greift diesen Themenkomplex auf und entfaltet seine vielfältigen Dimensionen in zehn wohlstrukturierten Kapiteln. Dabei geht sie wie folgt vor:

Nach einer knapp gehaltenen, für einführende Zwecke jedoch hinreichenden Darstellung der verschiedenen Demenzformen sowie Schutz- und Risikofaktoren geht die Autorin differenziert auf die Symptome ein. Diese sind jenen von demenzkranken Menschen ohne geistige Behinderung sehr ähnlich und können von Gedächtnisstörungen über Verwirrtheit und soziale Rückzugstendenzen bis hin zum Verlust erworbener Fähigkeiten und Veränderungen der Persönlichkeit reichen. Ein weiteres Kapitel wendet sich der oftmals schwierigen Diagnose von Demenz bei Menschen mit geistiger Behinderung zu. Die Autorin betont darin, wie wichtig ein frühzeitiges Erkennen und Deuten der Symptome ist, um adäquate Behandlungsprogramme zu entwickeln. Deutlich wird hier der Stellenwert einer umfassenden Alltagsbeobachtung durch Betreuungs- und Pflegepersonen sowie des Einsatzes spezifisch modifizierter Verfahren, da die gängigen Assessments bei Menschen mit geistiger Behinderung häufig nicht greifen. Als hilfreiches Beispiel stellt die Autorin ein Beobachtungsschema vor, das die Beurteilung des sozialen Verhaltens über einen längeren Zeitraum hinweg ermöglicht und schon früh wichtige Hinweise auf eine mögliche Demenzerkrankung geben kann.

Im Abschnitt „Wie eine Demenzerkrankung erlebt wird“ geht die Autorin der Frage nach, wie demenzkranke Menschen mit geistiger Behinderung sich selbst und ihre Krankheit wahrnehmen und wie sie von den Menschen in ihrer Umgebung – Mitbewohnern, Mitarbeitern in Wohneinrichtungen und Angehörigen – erlebt werden. Da die Betroffenen in der Regel die mit der Demenz einhergehenden Veränderungen sehr deutlich wahrnehmen, plädiert Gusset-Bährer dafür, ihnen die Diagnose mitzuteilen und sie in Entscheidungsprozesse über die weitere Betreuung und Versorgung miteinzubeziehen. Erkennbar wird an diesem Kapitel – obwohl die Autorin sich redlich bemüht, Ergebnisse von zumindest kleineren Forschungsarbeiten aufzunehmen –, dass insbesondere auf dem Gebiet des Eigen- und Fremderlebens von Demenz bei geistiger Behinderung noch immer ein beachtliches Forschungsdesiderat besteht.

Nach einer Übersicht über die verschiedenen Wohnformen, in denen demenzkranke Menschen mit geistiger Behinderung leben und versorgt werden – worüber insgesamt ebenfalls noch wenig systematische Informationen vorliegen – sowie einigen Hinweisen zur Finanzierung und Gestaltung widmet sich ein umfangreiches Kapitel der Milieutherapie. Dieser Ansatz, der alle nichtmedikamentösen Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensqualität und des Wohlbefindens umfasst, stützt sich auf die bewusste Konzeption der räumlichen, organisatorischen und psychosozialen Umgebung des Kranken. Zu Letzteren zählen insbesondere auch pflegerische Interventionen wie Basale Stimulation und Berührung. Darüber hinaus gibt die Autorin einen Einblick in therapeutische Maßnahmen mit ihren jeweiligen Zielen; infrage kommen vor allem Ergotherapie, Musiktherapie, Verhaltenstherapie und medikamentöse Therapien. Diese Maßnahmen dürften jedoch niemals nach einem starren Schema zum Einsatz kommen, sondern müssten immer individuell auf den jeweiligen Menschen mit seinem spezifischen Krankheitsbild abgestimmt werden.

In einem eigenen Kapitel zur Pflege geht die Autorin auf die allgemeine Verschlechterung des Gesundheitszustandes sowie auf die Phänomene Schmerzen und Schluckstörungen ein. Darüber hinaus behandelt sie die Pflege in der letzten Lebensphase im Sinne der Palliative Care. Besonders prekär erscheint in diesem Zusammenhang die finanzielle Situation: Obwohl Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenz in der Regel einen sehr hohen Pflegebedarf haben, ist die Übernahme der tatsächlichen Kosten in stationären Wohneinrichtungen derzeit noch ungeklärt. Als wichtige Begleitaspekte für eine gelingende Pflege demenzkranker Menschen mit geistiger Behinderung erachtet Gusset-Bährer u. a. den Verbleib in der vertrauten Umgebung, eine multiprofessionelle Betreuung, die bedachte Planung aller Maßnahmen sowie Palliative-Care-Schulungen für die Betreuenden.

Ein kurzes Kapitel am Schluss des Buches gibt wertvolle Hinweise zum Aufbau einer Versorgungsstruktur für Demenzkranke mit geistiger Behinderung in Deutschland. Von wesentlicher Bedeutung sei dabei ein angemessenes Instrument zur Messung von Lebensqualität und damit auch der Qualität der Betreuung und Pflege. Als Methode der Wahl nennt die Autorin das Dementia Care Mapping (DCM), ein evaluatives Verfahren, das mithilfe strukturierter Beobachtung Aussagen über das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz ermöglicht. In England werde diese Methode – trotz nicht zu leugnender Schwierigkeiten und Grenzen – auch in Wohneinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung gewinnbringend eingesetzt. Bevor DCM in Deutschland jedoch überhaupt flächendeckend zum Einsatz kommen könnte, müssten zunächst die noch fehlenden Versorgungsstrukturen überhaupt erst geschaffen werden. Dazu führt die Autorin in einem Ausblick positive Beispiele aus anderen Ländern an. Zwar sei noch kein europäisches Land mit einer optimalen Versorgungsstruktur ausgestattet, dennoch sei es sinnvoll, sich über bereits bestehende Projekte, Modelle und Erfahrungen zu informieren. Eine verstärkte Kooperation zwischen der Behinderten- und der Altenhilfe, die Einrichtung von Anlauf- und Informationsstellen, verbesserte Methoden zur Diagnosestellung, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften sowie der Aufbau von Selbsthilfegruppen für Angehörige und Mitbewohner seien unverzichtbare Bausteine auf dem Weg zu einer angemessenen Versorgung von demenzkranken Menschen mit geistiger Behinderung.

Sinikka Gusset-Bährer ist ein Buch gelungen, das sich durch eine gut verständliche Sprache, grundlegende Erläuterungen und zahlreiche Fallbeispiele auszeichnet und somit für interessierte Angehörige und Laien eignet. Gleichermaßen richtet es sich an ein Fachpublikum aus dem Gesundheits- und Sozialwesen und bietet auch dem versierten Leser wichtige Impulse für die Arbeit mit älter werdenden Menschen mit geistiger Behinderung. Obwohl es in erster Linie für Betreuende aus dem Bereich der Heilpädagogik konzipiert ist, ist es ebenfalls interessant für Pflegefachpersonen, die in ihrem Praxisfeld Umgang mit geistig behinderten Menschen haben. So werden etwa sowohl Lebensorte innerhalb der Behindertenhilfe als auch der Altenhilfe benannt und Situationen, in denen ein Aufenthalt demenzkranker Menschen mit geistiger Behinderung im Akutkrankenhaus oder der Umzug in eine Pflegeeinrichtung notwendig werden, mit ihren spezifischen Herausforderungen zumindest angesprochen. Die Autorin leistet mit ihrer Publikation einen wichtigen Beitrag zu einem im deutschsprachigen Raum lange vernachlässigten Thema, das zunehmend an Relevanz gewinnt. Das Buch kommt aufgrund seines wohldurchdachten Konzepts und seiner klaren Gliederung sowohl als Einführung als auch zum Nachschlagen infrage. Es bildet einen wichtigen Mosaikstein in der Auseinandersetzung mit Demenz bei geistiger Behinderung, an der sich in den letzten Jahren nun endlich ein größer werdender Kreis von Wissenschaftlern und Praktikern aus den unterschiedlichen Disziplinen beteiligt.

Rezension von Melanie Foik