Thomas Behr (Hrsg.)
Aufbruch Pflege
Hintergründe – Analysen – Entwicklungsperspektiven
Springer Gabler Verlag, Wiesbaden, 2015, 220 Seiten, 49.99 €, ISBN 978-3-658-06720-5
Nicht zuletzt durch die Auswirkungen des demografischen Wandels und dem dadurch bedingten erhöhten Bedarf an Pflegekräften, sind in den letzten Jahren der Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Pflege verstärkt ins Blickfeld gerückt. Mit ihrer Kampagne „Aufbruch Pflege“ stieß die „Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege“ (BGW), die gesetzliche Unfallversicherung für nicht staatliche Einrichtungen im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege, bereits 2006 eine öffentliche Diskussion über gesundheitliche Belastungen insbesondere in der Altenpflege in Deutschland an, die noch immer höchst aktuell ist und die sich seitdem ständig weiterentwickelt hat. Zusammen mit Partner aus Ministerien und Parteien, Pflegeeinrichtungen und Pflegeorganisationen, Fach- und Berufsverbänden, Wohlfahrtsverbänden, Sozialpartnern und Sozialversicherungsträgern arbeitet die BGW daran, dass sich aus dieser Kampagne ein breites Aktionsbündnis für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege bildet. Um Pflegende zu entlasten, werden dabei nicht nur Personalmindeststandards sowie eine Begrenzung von Dokumentationspflichten und Bürokratie als notwendig erachtet, sondern auch eine Reform der Pflegeausbildung sowie eine Aufwertung des Berufs.
Im Zuge ihrer Kampagne rief die BGW auch eine Expertenkommission, besetzt mit Fachleuten aus den unterschiedlichen Bereichen der Sozialwirtschaft (Thomas Bals, Jürgen Gohde, Kathrin-Rika Freifrau von Hirschberg, Rolf Höfert, Michael Huneke, Bjørn Kähler, Bernd Reuschenbach, Claudia Stiller-Wüsten), ins Leben, die im Versuch des proaktiven Denkens als Think Tank („Denkwerkstatt“) sich mit wichtigen aktuellen und zukünftigen Fragestellungen innerhalb der Altenpflege auseinandersetzten und Positionspapiere zu unterschiedlichen Themen erarbeiteten. Neben wissenschaftlichen Ergebnissen stehen dabei aktuelle, umfassende Recherchen und authentische Interviews mit Bundesminister a. D. Dr. jur. Heiner Geißler, Prof. Dr. jur. Thomas Klie und der Pflegepraktikerin Renate Neumüller. Vor diesem Hintergrund entstand das von Dr. phil. Thomas Behr herausgegebene Buch „Aufbruch Pflege“, das reflektierte Experteneinschätzungen zu den Themen Altenpflegeausbildung und Integrierte Versorgung sowie Empfehlungen zur Refokussierung auf den Kernprozess Pflege, zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation, zu psychischer Gesundheit und zu einem Nationalen Aktionsplan enthält.
Das in acht Teile beziehungsweise 17 Kapitel untergliederte Buch enthält einleitend zwei Beiträge von Thomas Behr und Bjørn Kähler. Unter der Überschrift „Aufbruch Pflege? Philosophischer Versuch einer Annäherung an das Faktische“ (S. 17-22) weist der Herausgeber, Dipl.-Pädagoge mit psychotherapeutischer Zusatzqualifikation, examinierter Altenpfleger sowie Vorstand und Geschäftsführer der regionalen Einrichtungen eines Wohlfahrtsverbandes, zunächst darauf hin, dass sich die Problemlagen in der Altenpflege seit 2006 nicht verringert haben. Nach Ansicht des Autors haben sich dabei die Risiken und Probleme unter anderem durch den demografischen Wandel, den eklatanten Mangel an Fachkräften, Finanzierungsproblematiken, unklare Ausbildungsregelungen und eine sich ausweitende Bürokratisierung jährlich potenziert und dies weitaus schneller als es angemessene Lösungen der Situation im Sinne der betroffenen Pflegebedürftigen und deren Pflegekräfte gab. „Es scheint“, so bringt es Thomas Behr auf den Punkt, „dass eine wirksame Problemlösungsfähigkeit im politischen Bereich und im System der Altenhilfe deutlich schwächer entwickelt ist als die Dynamik und die Kraft der Problemerzeugung. Die Probleme entwickeln sich dynamisch, die Lösungsversuche sind in aller Regel reaktiv und haben erst Wirkung, wenn sich schon längst neue Probleme aufgetan haben“ (S. 18).
Nach Ansicht des Autors birgt die offenkundige Krise der Altenhilfe aber auch Chancen. Was wir im Mündungsbereich des Lebens benötigten, sei „die Priorisierung der Gestaltungskraft des Ethisch-moralischen im Alltäglichen vor der Regulierungsmacht des Technokratischen und Wissenschaftlichen“ (S. 21). Würden wir wieder einfacher und entschiedener praktisch werden im sorgenden Tun, so Thomas Behr, würden wieder viel mehr (jüngere) Menschen in diesem Arbeitsfeld arbeiten wollen und das demografiebedingte Pflegekräfteproblem beheben.
In seinem Beitrag „Von der Strategie vorausgreifenden Denkens – Die Arbeit des Think Tank seit 2006“ (S. 23-27) beleuchtet Bjørn Kähler, zuständig für Moderation, Koordination und Projektmanagement der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, zunächst die Ursachen der bestehenden Personallücken vieler Altenpflegeeinrichtungen, um dann die Arbeit der vom BGW gegründeten „Expertenkommission Pflege“ vorzustellen. Diese Expertenkommission, die im Rahmen ihrer Tätigkeit Position zu konkreten Fragen und Problemen in Bezug auf gesundheitserhaltende Arbeitsplätze in Altenpflegeeinrichtungen bezogen und bereits eine Reihe von klaren, vorausschauenden Empfehlungen und Bewertungen erarbeitet habe, die sie an die politisch Gestaltenden adressierte, sei nach wie vor die einzige Organisation, die sich mit Veränderungsprozessen und deren Auswirkungen auf die in der Pflege arbeitenden Menschen beschäftige. Aufgrund der vorliegenden Positionspapiere gibt es in der Pflege nach Ansicht des Autors „keine Erkenntnisdefizite“, vielmehr müssten wir „in Handlung kommen!“ (S. 27).
Die im Buch präsentierten Positionspapiere und Expertenexpertisen zu einem „Nationalen Aktionsplan Pflege“ (S. 29-57), über die „Refokussierung auf den Kernprozess Pflege“ (S. 59-87), „Integrierte Versorgungssysteme“ (S. 89-117), „Altenpflegeausbildung“ (S. 119-159), „Entbürokratisierung der Pflegedokumentation und psychische Gesundheit“ (S. 161-190) und „Der demografische Wandel und die Situation der Pflegenden“ (S. 191-198), die auch konkrete Empfehlungen und Forderungen an den Gesetzgeber, die Leistungsträger, die Leistungserbringer, die Pflegekräfte und die Bildungsakteure enthalten, stellen grundlegende Themen dar, die die Altenpflege heute beschäftigen. Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren benötigt das Altenpflegepersonal zukünftig, in viel höherem Maße als bisher, bessere Arbeitsbedingungen, Vergütungen, einfachere Handlungs- und Qualitätsszenarien und vor allen Dingen gesundheitsfördernde Fürsorge.
Insgesamt betrachtet enthält das Buch „Aufbruch Pflege“ zahlreiche Impulse zum Nach- und Weiterdenken über Veränderungsprozesse in der (Alten-) Pflege, weshalb es zunächst einmal in die Hände von Führungs- und Leitungskräften in Organisationen, Betrieben und Verbänden der Altenhilfe und -pflege gehört. Abgesehen vom Wissenschaftsbereich, seien es nun Lehrende oder Studierende einschlägiger Studiengänge, ist die Lektüre darüber hinaus aber auch für alle empfehlenswert, die sich mit dem Thema (Alten-) Pflege sowie der aktuellen Situation und Diskussion in der Pflegebranche umfassend auseinandersetzen und mitreden möchten.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling