Rosenmayr - Im Alter noch einmal leben

Rosenmayr

Leopold Rosenmayr

Im Alter noch einmal leben

Lit Verlag, Berlin, 2011, 198 Seiten, 19,80 EUR, ISBN 978-3-643-50237-7

Der Autor, ein emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Wien, ist ein bekannter Sozialgerontologe, der u. a. durch seine Untersuchungen und Studien zum intergenerationalen Wohn- und Kontaktverhalten im deutschsprachigen Raum bekannt wurde. Die Erkenntnis „Nähe auf Distanz“ bezüglich des Zusammenlebens der mittleren und älteren Generation in modernen Gesellschaften wurde u. a. auch durch seine Erhebungen fundiert (siehe Leopold Rosenmayr und Eva Köckeis: Umwelt und Familie alter Menschen, Neuwied 1965).

Die Arbeit ist in vier Abschnitte mit insgesamt 15 Kapiteln untergliedert.  30 ganzseitige Abbildungen, überwiegend Fotos von Kult- und Symbolgegenständen aus verschiedenen Kulturen und Epochen der Menschheitsgeschichte mit kurzen Erläuterungen illustrieren die Texte.

Im ersten Abschnitt „Langlebigkeit als Aufgabe“ berichtet der Autor von den eigenen Einbußen und Schwierigkeiten, die das Alter mit 86 Jahren mit sich bringt. So beschreibt er u. a. einen Sturz bei einer Wanderung, der einen Ellenbruch zur Folge hatte. Des Weiteren geht er auf Strategien der Anpassung des Alters auf das Leistungsvermögen ein, wenn er den Spruch des delphischen Orakels „Niemals zu viel!“ anführt. Kritisch führt er das gegenwärtige Verhalten vieler Älterer in den modernen Gesellschaften an, das mehr durch ständigen Fernsehkonsum als regelmäßige Bewegung verbunden mit sinnvollen Aufgaben und Tätigkeiten bestimmt wird. Bezüglich der Lebensführung verweist er auf seine Vorstellungen über die Weisheit und Achtsamkeit im Alter, indem er fordert, sich nie aufzugeben und ständig an sich weiterzuarbeiten.

Der zweite Abschnitt „Erzählungen aus dem Gelebten und Erlebten“ beinhaltet kurze Episoden aus seiner Feldforschung in Westafrika. Marginale Begegnungen mit den Einheimischen werden eher skizzenhaft beschrieben, ohne auf die Fragestellungen und Vorgehensweisen der Untersuchungen genauer einzugehen.

Im dritten Abschnitt „Unerfüllter und Erfüllbares“ werden neben einer Erzählung über die Erinnerung an seinen Großvater weitere Erlebnisse aus Westafrika beschrieben. So berichtet er von einem älteren Heiler, der zutiefst bedrückt war, dass seine junge Frau keine Kinder bekam. Des Weiteren beschreibt er die Begegnung mit einem Hogon, einem allseits respektierten Dorfältesten des Volksstammes der Dogon, der ein asketisches Leben führt. Den Abschluss bildet die Darstellung einer „späten Liebe“ in Japan, die dem Autor vor vielen Jahren im Rahmen seiner Vortragstätigkeit widerfuhr.

Im vierten Abschnitt „Erweiterung von Sinn“ wird zu Anfang von einer Bergwanderung im Dachsteingebirge berichtet. Es folgen auf wenigen Seiten Ausführungen über die „Selbstsorge für das Denken“ unter Berücksichtigung des Lebens im Alter. Hierbei steht der Wunsch oder das Ansinnen „Noch einmal leben“ im Mittelpunkt. Der Autor verweist diesbezüglich auf Erkenntnisse von Platon, Aristoteles, Sokrates und Foucault. In einem weiteren Kapitel geht er auf die Bedeutung der Weisheit für das Alter und Altern ein, wobei u. a. auf Textstellen im Alten Testament und im Hinduismus verwiesen wird. Auch Heidegger wird diesbezüglich zitiert. Das letzte Kapitel befasst sich mit dem Gilgamesch-Epos als Parabel für einen Neuanfang im Alter.

Fasst man die äußerst verschiedenen Darstellungsebenen der Ausführungen zusammen - die Eindrücke des Autors beim Wandern und Bergsteigen in Österreich, die Begegnungen mit fremden Kulturen in Westafrika, die Verhaltensweisen der Älteren in Westeuropa und die philosophischen und mythologischen Wissensstände - dann fällt es dem Rezensenten schwer, ein verbindendes Gedankenelement zu entdecken. Vordergründig scheint die Auseinandersetzung mit dem Alter und damit der Vergänglichkeit das zentrale Motiv der Impressionen und Gedanken zu bilden. Doch die Forderung oder der Wille des Autors „Noch einmal leben!“ passt nicht so recht in die gängigen Vorstellungen über die Altersweisheit, die vor allem Gelassenheit, Kontemplation und das Loslassen betonen. Dem Impuls, im Alter Neues zu wagen, die alten Pfade hinter sich zu lassen, wie der Autor wiederholt fordert, fehlt der rechte Sinnzusammenhang. Es darf gefragt werden, wozu und warum. Ist es die Furcht vor dem Statusverlust und die Marginalisierung, die das Alter mit sich bringt? Das Facettenhafte und Unzusammenhängende der Ausführungen können als fehlende Struktur des Autors interpretiert werden, der noch im hohen Alter auf der Suche nach etwas zu sein scheint. Das hat dann schon etwas Tragisches an sich, das man eher dem Tagebuch anvertrauen sollte, als es in einem Buch mit fast 200 Seiten Umfang zu erläutern. So bleibt das Fazit zu ziehen, dass ein Altersforscher sich äußerst problembeladen mit dem eigenen Altern auseinandersetzt.

Eine Rezension von Sven Lind