
Pflege im Hospital
Die Aufwärter und Aufwärterinnen von Merxhausen (16.-Anfang 19. Jh.)
PL Academic Research (= Beiträge zur Wissenschafts- und Medizingeschichte, Marburger Schriftenreihe, Bd. 2, zugl. Marburg, Univ., Diss., 2011)
Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main, 2015, 389 S., 68,90 €, ISBN 978-3-631-65952-6
Mit ihrer Dissertation zur Geschichte der Aufwärter und Aufwärterinnen im Hospital Merxhausen in Hessen gelingt der studierten Historikerin, Ethnologin und Religionswissenschaftlerin Natascha Noll ein beeindruckender Einblick in die von der professionellen und wissenschaftlich ambitionierten Pflege gerne verdrängten proletarischen Wurzeln des Pflegeberufes. Es ist bemerkenswert, dass sich eine Historikerin den wenig beachteten Aufwärterinnen und Aufwärtern zuwendet, welche in einem unter landesherrlicher Regie (vgl. S. 47) und damit in gewisser Weise „säkular“ geführten Hospital der Frühen Neuzeit das Rückgrat hauswirtschaftlicher und pflegerischer Leistungen bildeten. Gerade dadurch, dass sie in Pflege und Medizin fachfremd ist, verfügt die Verfasserin über eine Außenperspektive auf eine Berufsgruppe, welche bislang durch Mediziner, aber auch Pflegefachleute, fremd bewertet und vielfach als Negativfolie für die eigene Profession instrumentalisiert wurde (vgl. S. 23-34). So eröffnet die Verfasserin nicht nur einen Blick auf eine „andere“, eine vormoderne Pflege (S. 332), sondern leistet auch einen Beitrag zum Verständnis moderner Pflege, deren Berufsrealität und gesellschaftliche Stellung trotz Professionalisierungs- und Akademisierungsbemühungen häufig immer noch Elemente des einstigen Wartdienstes in sich trägt.
In der Einleitung bindet die Verfasserin ihren Gegenstand umfassend in den deutsch- und fremdsprachigen Forschungsstand zum Hospitalwesen und zur Entwicklung des Pflegeberufes ein und legt ihre Methodik und Zielsetzung dar (S. 9-44). Dies ergänzt sie um eine sowohl lexikalische als auch pflegefachliche Begriffsklärung anhand pflegebezogener historischer Lehrbücher und neuerer historischer Forschungen (S. 9-19).
Im Vergleich zu verschiedenen neueren deutschsprachigen Arbeiten zur Geschichte des Pflegeberufes scheint die Verfasserin keinen spezifischen Deutungshorizont (vgl. S. 21-23) an die Quellen anlegen zu wollen, sondern will diese, soweit möglich, sine ira et studio zum Sprechen zu bringen und sich von stereotypen Beschreibungen des Wartpersonals sowie der Hospitalstrukturen abzusetzen und eine möglicherweise geglättete
Gesamtsicht mit einem Blick auf das Kleine und Konkrete aufzubrechen (vgl. SS. 23-34, 37-39 und 43 f.).
Die Verfasserin kann auf relativ ergiebige Primärquellen aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg, dem Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen und des Landeskirchlichen Archivs der Evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck, Kassel zurückgreifen, welche sich teilweise aus der Sicht gesellschaftlich höher gestellter Personen auf die Aufwärterinnen und Aufwärter beziehen, teilweise die Aufwärterinnen und Aufwärter, etwa in Gerichts- und Untersuchungsprotokollen oder Bittschriften, vermittelt durch Schreibkundige selbst zu Wort kommen lassen (S. 45 f.).
Intensiv setzt sie sich mit dem von ihr eingeschlagenen mikrohistorischen Ansatz auseinander (SS. 35-44). Der exemplarischen Erforschung einer spezifischen Einrichtung ist die begrenzte Verallgemeinerbarkeit gleichsam inhärent. Gleichzeitig bietet das Hospital Merxhausen durch seine relative Größe und seine Einbindung in hospitalübergreifende Verwaltungsstrukturen gute Voraussetzungen für mikrohistorische Forschungen und eine gute Quellenlage, welche die Verfasserin als Voraussetzung dafür ansieht, ärmeren Gesellschaftsschichten an ihrem Lebens- und Arbeitsort nahezukommen (vgl. S. 37.39 f.). Der Aufbau der Dissertation ergibt sich aus der Absicht der Verfasserin, Aussagen darüber treffen zu können, „(...) welche Rolle der Aufwartung als Tätigkeitsfeld und den Aufwärtern und Aufwärterinnen als Personal im Hospital zukommen konnte.“(S. 40): So widmet sich das zweite Kapitel dem Hospital Merxhausen, seiner Geschichte und seiner Verwaltungsstrukturen als ganzen (S. 47-74), das dritte Kapitel den Hospitalitinnen, also den Hospitalsinsassinnen, ihrer Herkunft, Einweisungsgründen und Altersstruktur (S. 75-113), das vierte Kapitel stellt das Hospital Merxhausen in den Kontext der frühneuzeitlichen Hospitallandschaft (S. 115-122), Kapitel 5 bis 9 gehen auf die Aufwärterinnen und Aufwärter ein und thematisieren die Entwicklung dieses Berufes in Merxhausen, Lebensläufe und soziale Stellung des Wartpersonals in der zweiten Hälfte des 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert, die Unterbringung und Ausstattung des Wartpersonals und der Hospitalitinnen, die Aufgaben sowie die Dienstversehung und Dienstvergehen der Aufwärterinnen und Aufwärter. Kapitel 10 beleuchtet den Einfluss von zeitgenössischen Gesundheitsdiskursen auf die Aufwartung in Merxhausen und führt in ein Fazit (Kapitel 10) über. Angefügt sind ein Abkürzungs-, Tabellen-, Abbildungs- und Quellen- und Literaturverzeichnis, welches ungedruckte und gedruckte Quellen sowie Literatur differenziert aufführt.
Das Hospital Merxhausen war aus einem säkularisierten Kloster hervorgegangen und war zusammen mit anderen hessischen Hospitälern einer „Samtverwaltung“ unterstellt, welche bis 1810 Bestand hatte (vgl. S. 47-57). Obgleich eine grundsätzlich säkulare Einrichtung, lebten klösterliche Strukturen über die Jahrhunderte fort: Das Hospital wurde in Form einer Stiftung mit eigenen Wirtschaftsbetrieben geführt, welche den Hospitalbetrieb finanzierten und den wirtschaftlichen Rahmen absteckten bzw. dem Hospital den Charakter eines Gutsbetriebes verliehen (vgl. S. 47-55.). Das Hospital war grundsätzlich als dauerhafte Lebensperspektive für seine Insassinnen gedacht, sodass man häufig jung aufgenommen und in der Einrichtung alt wurde (vgl. S. 112). Die Einweisung erfolgte weniger aufgrund medizinischer Indikationen als aus sozialen Gründen, etwa wenn eine anderweitige Versorgung nicht gewährleistet war (vgl. SS. 75-83. 86 f.). Körperlich und geistig Beeinträchtige lebten nebeneinander, obgleich sich die Tendenz über die Jahrzehnte hin zur Aufnahme geistig Beeinträchtigter verschob (vgl. S. 112). Es wurden nur so viele Hospitalitinnen aufgenommen, wie aus den Stiftungsmitteln des Hospitals versorgt werden konnten (vgl. S. 91).
Das Wartpersonal hatte rein ausführende Funktionen und war den aus höheren gesellschaftlichen Schichten stammenden Verwaltungsbeamten unterstellt. Der Amtmann bzw. Vogt leitete das Hospital in wirtschaftlicher, rechtlicher und disziplinarischer Hinsicht. Zudem übte er die religiös-moralische und medizinisch-fachliche Aufsicht aus (vgl. S. 66.74). Diesem übergeordnet war der Obervorsteher, welcher die Samtverwaltung im Auftrag des Landesherren führte, die Aufwärterinnen und Aufwärter einstellte (vgl. S. 129 f.) und von der Samtkommission beaufsichtigt wurde (S. 65 f.).
Aufwärterinnen und Aufwärter waren im 16. Jahrhundert noch nicht fest vorhanden, bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gehörten sie, anders etwa als Mediziner, zum festen, besoldeten Personalbestand des Hospitals Merxhausen – eine Entwicklung, die sich in anderen Hospitälern bereits im Mittelalter vollzog (vgl. S. 123). Gab es in den Anfangsjahren noch zahlreiche Berührungspunkte zwischen Wartpersonal und Hospitalitinnen, entfernten sich die beiden Gruppen bis ins 19. Jahrhundert zunehmend voneinander. Bis ins 17. Jahrhundert versorgten sich Hospitalitinnen gegenseitig, teilweise nahm man auch gezielt Hospitalitinnen und Hospitaliten als Arbeitskräfte auf (vgl. S. 128). Das Wartpersonal lebte in enger Hausgemeinschaft mit den Hospitalitinnen zusammen, hatte Aufsichtspflichten über die Hospitalitinnen, jedoch keine formale Autorität, welche allein dem Vogt zustand und den Aufwärterinnen und Aufwärtern hohe persönliche und soziale Kompetenzen abverlangte (vgl. S. 124-134).
Die Einheit von Arbeits- und Lebensort war charakteristisch für die Tätigkeit der Aufwärterinnen und Aufwärter, wobei nur Ehepaaren eine eigene Stube und damit eine räumliche Trennung von den Hospitalitinnen zugestanden wurde (vgl. S. 228-232).
Als besoldetes Wartpersonal bevorzugte man vor allem bis Ende des 17. Jahrhunderts Ehepaare, deren Kindern im Hospital aufwuchsen und welche durch Übernahme des Berufs von den Eltern Aufwärterfamilien begründeten (S. 128 f. und 135 f.).
Dabei waren durchaus „Karrieren“ im Hospital möglich, welche sich allerdings in den gegebenen ständischen Grenzen hielten. Aufwärterinnen und Aufwärter waren in der gesellschaftlichen Hierarchie grundsätzlich vergleichbar mit Gesinde, Taglöhnern, Kleinbauern oder kleinselbstständigen Handwerkern. Im Hospital gehörten zur unteren bis mittleren Hierarchieebene der Hausdiener (S. 161 f.). Im Gegensatz zum einfachen Gesinde bot der Wartdienst eine zwar mäßig besoldete, aber grundlegende Existenzsicherung und eine Dauerstellung, welche den Beruf für eine allenfalls rudimentär gebildete ländliche Unterschicht attraktiv machten. Zudem bot der Wartdienst Witwen, alleinstehenden Frauen oder auch – entgegen den offiziell hochgehaltenen moralischen Normen – unehelichen Müttern Auskommen und Alterssicherung (vgl. S. 136. 173-176).
Der Wartdienst hatte durchaus „öffentlichen“ Charakter: Er war in das herrschaftliche System eingebunden, indem Aufwärterinnen und Aufwärter durch den Obervorsteher eingesetzt und vereidigt wurden (vgl. S. 176 f.). Obwohl es keine spezifischen Qualifikationsanforderungen gab und diese allenfalls von den Beamten subjektiv festgesetzt wurden (vgl. S. 184), wiesen einzelne Aufwärterinnen und Aufwärter Zusatzqualifikationen, etwa als Hebamme oder Bader, auf (vgl. SS. 141.291 f.). Zudem ist zu beachten, dass gerade bei fehlenden oder geringen formalen Qualifikationsanforderungen das Praxislernen von hoher Bedeutung gewesen sein mag und es durchaus spezifisches implizites Berufswissen gegeben haben mag.
Die Aufwärterinnen und Aufwärter weisen in ihrer Struktur und ihren Lebensverhältnissen bereits auf die lohnabhängige Kleinfamilie voraus (vgl. S. 197 f.), welche mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert für die Arbeiterschaft prägend wurde.
In Merxhausen lässt sich ein System der Unterbringung der Hospitalitinnen und eine Zuweisung von Einsatzorten zu bestimmten Aufwärterinnen und Aufwärtern erkennen. Zudem gab es zwar keine strikten, aber dennoch erkennbare Geschlechtsunterschiede in der Arbeitsteilung (vgl. S. 236 f. und 294-298). Grundsätzlich gehörten die Sorge für Sauberkeit des Hospitals und der Hospitalitinnen, die Sorge für Wäsche und Kleidung, Beheizung der Räume, Ausgabe von Nahrung und Geld an die Hospitalitinnen, Aufsicht über die Sittlichkeit im Hospital, Durchführung von Sanktionen sowie medizinische Tätigkeiten wie die Akutversorgung, Krankenbeobachtung, Medikamentenausgabe und medizinische Assistenz zu den Aufgaben des Wartpersonals. Dazu kamen, vor allem für die männlichen Aufwärter, Tätigkeit in der allgemeinen Hospitalökonomie wie Holz- oder Erntearbeiten (vgl. S. 249-298).
Mit Zunahme des ärztlichen Einflusses auf das Hospital Ende des 18. Jahrhunderts verlagerte sich die Tätigkeit des Wartpersonals auf patientennahe Tätigkeiten. Dabei kam es zur Übertragung von Aufgaben, welche vorher den Hospitalitinnen selbst oblagen, auf das Wartpersonal, welches damit vom Wirtschafts- und Aufsichtspersonal zunehmend zum personenbezogenen, medizinnahen Dienstleister wurde (vgl. S. 293 f. und 318 f.). Aufwärterinnen und Aufwärter unterstanden unterschiedlichen Regelungen und Kontrollmechanismen, an deren Gestaltung sie nicht nachweislich beteiligt waren (vgl. S. 310 f.). Entsprechend ihrer Zugehörigkeit zur Dienerschaft wurden Inhalte und Qualitätskriterien ihrer Arbeit durch Berufsfremde definiert und veränderten sich entsprechend externer Interessenlagen, was auch dazu beitrug, dass man die Anreicherung der Krankenwartung mit medizinischen Assistenztätigkeiten als Qualifikationszuwachs anzusehen begann.
Die Arbeit von Natascha Noll wirft ein erhellendes Licht auf eine pflegerische Berufsgruppe, welche nicht der Bildungsschicht angehörte und deren Stimme in der Geschichte der Pflege leicht überhört werden kann. Aus archivalischen Quellen schält sie ein Profil der Aufwärterinnen und Aufwärter in Merxhausen heraus und beleuchtet unter anderem an Biographien und dokumentierten Selbstaussagen Alltag und Lebensrealität von Pflegenden als Lohnarbeiter, welchen anders als Ordensleuten oder Angehörigen von Schwesternschaften per se keine ideelle Motivation für ihre Tätigkeit unterstellt werden konnte. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass das Wartpersonal reguläres Hospitalpersonal und keine Notlösung gewesen ist (S. 322 f.). Sie setzt den Beruf des Aufwärters/der Aufwärterin in den zeitgenössischen Kontext und ist bestrebt, ihn nicht an den Maßstäben späterer Zeiten oder gar denen der modernen Pflege zu messen. In Relation zu den beruflichen Möglichkeiten, welchen den Unterschichten in einer Ständegesellschaft offenstanden, hatte der Wartdienst durchaus eine gewisse Attraktivität. Gleichwohl wies er Elemente eines „Verlegenheitsberufes“ auf, den vor allem Frauen aus wirtschaftlicher Not ausübten, und wäre für Angehörige höherer Stände undenkbar gewesen (vgl. 323 f.).
Natascha Noll ist eine übersichtliche, nachvollziehbar strukturierte und fundiert in den aktuellen Forschungsstand sowie die größeren historischen Zusammenhänge eingebettete Arbeit gelungen, welche sie mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen illustriert. Kleinere Flüchtigkeiten wie etwa Tippfehler (z.B. S. 157) ändern an diesem Befund nichts. Auf S. 19 könnte man sich wenigstens exemplarische Literaturbelege wünschen. Die Stichprobenauswahl aus den Quellen erscheint nicht immer nachvollziehbar: So lässt sich aus den Graphiken der Seiten 105-111 die Gesamtzahl der untersuchten Fälle nicht erkennen, auch die Auswahlkriterien für die Stichproben bleiben unklar. Möglicherweise hätte eine detailliertere Übersicht über die Archivalien und die Inhalte der einzelnen Konvolute die Orientierung für die Leserin erleichtert und die Dokumentenauswahl im Einzelfall nachvollziehbarer gemacht.
Insgesamt handelt es sich um eine Arbeit, welche die Geschichtsforschung zur Pflege und das Verständnis für die historischen Wurzeln des Pflegeberufes bereichert und neue Erkenntnisse liefert. Möge sie zahlreiche Leser finden.