Henriette Arendt
Krankenschwester, Frauenrechtlerin, Sozialreformerin
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main, 2015, 280 S. 39,95 €, ISBN 9783863212834
„Meine Fürsorge lasse ich jedem Bedürftigen angedeihen, ob Protestant, Katholik, ob Jude oder Heide."
Henriette Arendt war eine für die Pflege wie für die soziale Arbeit bedeutende Frau. Sie veröffentlichte viel diskutierte Bücher und Artikel, war politisch aktiv und international vernetzt. Dass sie heute praktisch vergessen ist, lässt sich vielleicht am ehesten damit erklären, dass sie ihren eigenen Weg verfolgte und sich keiner Verbandsstruktur unterordnete. Ihre auch ein Jahrhundert später noch in vielerlei Hinsicht relevanten Beiträge wieder zu thematisieren, ist das Verdienst der Studie von Henrike Sappok-Laue. Selten erscheinen Dissertationen (und noch seltener aus der Pflege), die einen allein schon aufgrund des sprachlichen Ausdrucksvermögens derart in den Bann ziehen wie diese. Die Autorin rekonstruiert den Lebensweg von Henriette Arendt und ordnet die Ereignisse so in den gesellschaftlichen und berufshistorischen Kontext ein, dass sie sich dem Leser erschließen, als würde er eine zeitgenössische Entwicklung beobachten.
Sappok-Laues Ansatz ist ein mikrogeschichtlicher: Anhand des Lebens von Henriette Arendt geht es ihr vor allem um die Verflechtung von Pflege und des um die Jahrhundertwende neu sich herausbildenden Felds der sozialen Arbeit. Ihr Blick richtet sich dabei auch auf die Frauenbewegung und auf die angloamerikanischen Länder. Diese Aspekte vereint die Sozialreformerin Henriette Arendt in sich, als weltliche Krankenpflegerin, Polizeiassistentin, Autorin und Aktivistin.
Nach einer Einführung zu Forschungsgegenstand, Methoden und Quellen nimmt die Darstellung von Leben und Wirken Henriette Arendts den Hauptteil der Studie ein, gegliedert nach ihren Tätigkeitsfeldern Krankenpflege, soziale Arbeit und freiberufliche Fürsorge. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis, das in über 750 Fußnoten verarbeitet ist, regt zu weiterer Beschäftigung mit dem Themenfeld an.
Henriette Arendt, Tante von Hannah Arendt, verbrachte ihre Jugend im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Zeit, in der Ausbildung und Berufstätigkeit für Mädchen und Frauen ungewöhnlich waren. Gegen den Willen ihrer Eltern ging sie vom heimischen Königsberg nach Berlin und nahm im dortigen Jüdischen Krankenhaus 1896 eine einjährige Ausbildung zur Krankenpflegerin auf. Obwohl sie die Abschlussprüfung nicht bestand, hatte sie „Aussicht auf den Status der Krankenpflegerin“: Bis 1907 gab es keine gesetzlichen Vorgaben zur Ausübung des Berufs.
Arendt wechselte mehrfach den Schwesternverein, konvertierte vom jüdischen zum evangelischen Glauben, den sie als freier empfand, und hielt es nicht lange in einer Anstellung aus. Schwierigkeiten und Konflikte mit ihrem Umfeld, insbesondere mit Vorgesetzten, verbunden mit gesundheitlichen Einschränkungen, führten zu häufigem Stellenwechsel.
Jahre später veröffentlichte Henriette Arendt den Roman „Dornenpfade der Barmherzigkeit“ über das Scheitern einer Krankenschwester an den Rahmenbedingungen der Pflege, das Vorwort schrieb Agnes Karll. Das Buch ist, wie Sappok-Laue zeigt, weitgehend autobiografisch. Immer wieder zitiert sie daraus, so dass der Leser einen Eindruck von der Pflege in verschiedenen Settings der damaligen Zeit, vor allem in Krankenhäusern und Privathaushalten, bekommt. Die zum Teil aus heutiger Sicht abenteuerlichen medizinischen und pflegerischen Methoden werden plastisch vor Augen geführt: Nach einer schwierigen Geburt machte man an dem Neugeborenen „Belebungsversuche, indem sie den Körper hin und her schwenkten, dann musste ich es zirka drei Viertelstunden in heißem Wasser baden und Herzmassage machen, aber es war alles vergebens, das bisschen Leben erlosch bald.“
Nach acht Jahren hatte Arendt die Freude am Beruf verloren, aufgrund der Arbeitsbedingungen, aber auch der dünkelhaften Art, mit der ihr viele ihrer Patienten, insbesondere in der Privatpflege, begegneten. Damit konnte die gebildete und stolze Henriette Arendt nicht umgehen. In „Dornenpfade der Barmherzigkeit“ lässt sie ihre Sr. Gerda sagen: „Jetzt begreife ich, warum alle Schwestern hier krank werden: Überarbeitung, nichts weiter.“
Ein neues Kapitel in Henriette Arendts Leben begann, als sie 1903 mehr aus Zufall eine Stelle als Polizeiassistentin in Stuttgart antrat, wo sie bei gynäkologischen und kriminologischen Untersuchungen der weiblichen Gefangenen assistierte, denen meist Prostitution vorgeworfen wurde. Sappok-Laue beschreibt gut recherchiert den Zusammenhang von Frauenbewegung und sich entwickelnder sozialer Arbeit sowie den Status der Prostitution in der Gesellschaft um die Jahrhundertwende – Prostituierte und dieser Tätigkeit Verdächtige waren den Polizisten ausgeliefert, so dass Frauenrechtlerinnen weibliche Polizistinnen forderten.
Sehr interessant zu lesen ist auch, dass es in der Pflege zu diesem frühen Zeitpunkt, zu dem selbst Agnes Karll B.O. noch eine traditionell-ständische Berufsauffassung vertrat, eine Professionalisierungstendenz gab, die in Deutschland später weitgehend abgeschnitten wurde. So wurden Krankenpflege und soziale Arbeit zusammen gedacht. Beim ICN-Kongress 1912 in Köln stand ein ganzer Tag unter dem Thema „Die soziale Arbeit der Krankenpflegerin“. Hier hielt auch Henriette Arendt einen Vortrag. In Leipzig begann 1912 an der Sozialen Frauenhochschule der erste Studiengang für Krankenpflegerinnen, „versandete“ jedoch durch den Ausbruch des Weltkriegs. Laut der ersten Prüfungsverordnung für soziale Arbeit 1918 war eine Vorbildung als Krankenschwester erforderlich. Sappok-Laue macht in ihrer Einordnung die Zersplitterung und Traditionslastigkeit der Krankenpflegeverbände dafür verantwortlich, dass die Pflege mit der Entwicklung nicht Schritt halten konnte und die neue soziale Arbeit sich schließlich von ihr löste.
Als Polizeiassistentin verlagerte Arendt nach und nach ihren Arbeitsschwerpunkt auf die Kinderfürsorge. Sie nahm auch Kinder in ihrer Einzimmerwohnung auf und ließ sie in ihrem Bett schlafen. Schließlich adoptierte sie sogar eines der vernachlässigten Kinder, die sie betreute. Sie entdeckte, dass es einen Handel mit unehelichen Kindern gab, die zum Betteln oder zur Prostitution gezwungen, aber auch für medizinische Experimente missbraucht wurden, und widmete einen Großteil ihrer Zeit dessen Bekämpfung. So forderte sie staatliche Einrichtungen für uneheliche Mütter, verwahrloste Kinder und Prostituierte. Als sie in der Versorgung eines Säuglings auf bürokratische Hürden stieß und das Kind verstarb, erstattete sie Anzeige wegen fahrlässiger Tötung. Das Ergebnis war, dass sie einen Verweis erhielt. Anstatt klein beizugeben, machte Arendt den Fall 1907 in einem Vortrag öffentlich, in dem sie auch Kritik an „hochgestellten Persönlichkeiten“ übte. Daraufhin wurde sie aus dem Stuttgarter Hilfspflegerinnen-Verband ausgeschlossen. Auch wurde eine Untersuchung des Gemeindeamts wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses und schwerer Beleidigung gegen sie eingeleitet.
Ebenfalls 1907 veröffentlichte Arendt ein viel beachtetes Buch zu ihrem Arbeitsbereich, „Menschen, die den Pfad verloren“. In der Folge wurden in vielen anderen Städten Polizeiassistentinnen angestellt. Sie selbst war in ihrer Dienststelle nicht mehr wohl gelitten: Sie wirbelte zu viel Staub auf; die Untersuchung gegen sie wurde ausgeweitet bis hin „zu einer regelrechten Mobbingkampagne“, wie Sappok-Laue belegt. 1909 schied sie durch eigene Kündigung aus dem Polizeidienst aus.
Die Geschichte von Arendts Tätigkeit als Polizeiassistentin liest sich außerordentlich spannend. Die Autorin verschweigt auch Ereignisse und Charakterzüge nicht, die ihre Protagonistin stellenweise in negativem Licht erscheinen lassen, etwa, wenn sie den unkorrekten Umgang Arendts mit ihrer Gehilfin rekonstruiert. Deutlich wird auch an der Darstellung ihres Medikamentenmissbrauchs, unter welchem Druck Henriette Arendt über Jahre gestanden haben muss: Arbeitszeiten, die praktisch die gesamte wache Zeit umfassten, das Interesse einer sehr kritischen Öffentlichkeit, mangelnde Unterstützung und später sogar Gegnerschaft ihrer institutionellen Umgebung sowie die Erfahrung der sozialen Missstände und blanker Not, gegen die sie praktisch als Einzelkämpferin antrat.
Nach ihrem Ausscheiden aus dem Polizeidienst zog Henriette Arendt in die Schweiz und arbeitete als Publizistin und „internationale Detektivin, um den Kinderhandel aufzudecken und zu bekämpfen“, wie es in einer polizeilichen Akte über sie heißt. 1910 löste ihr Fall, den sie in dem Buch „Erlebnisse einer Polizeiassistentin“ veröffentlicht hatte, eine reichsweite Zeitungsdebatte aus. Auch ihr 1911 veröffentlichtes Buch „Kleine weisse Sklaven“, in dem sie unter anderem das Frauenwahlrecht forderte, um so zu einer sozialeren Gesetzgebung zu kommen, löste Debatten und Anfeindungen aus.
1914 hielt Arendt in England Vorträge und blieb dort, um Weltkriegsflüchtlingen zu helfen. Auch hier weist Sappok-Laue auf problematische Züge von Henriette Arendt hin: Obwohl sie damit ihre Ausweisung riskierte, nahm sie in England öffentlich das deutsche Heer gegen Berichte der Flüchtlinge von Übergriffen in Schutz. Schließlich wurde sie unter dem Verdacht, den deutschen U-Booten, die die „Lusitania“ versenkt hatten, Signale mit ihrer Taschenlampe gegeben zu haben, inhaftiert und 1915 abgeschoben. In der Zeit danach betreute sie in Wien galizische Flüchtlinge und wurde auch von dort abgeschoben, da man sie wohl aufgrund ihres Aufenthalts in England für verdächtig hielt. Es folgte offenbar wieder ein Aufenthalt in Deutschland; außer einem Zeitungsartikel von 1919 sind jedoch keine weiteren Veröffentlichungen von ihr bekannt. Ihre letzten Jahre bleiben weitgehend im Dunkeln. Zuletzt war Arendt bei der französischen Armee in Mainz als Oberschwester tätig, wo sie 1922 mit 47 Jahren nach einer Operation starb.
Auch wenn sie, wie Sappok-Laue feststellt, „keine Theoretikerin wie Agnes Karll oder Alice Salomon“ war und weder eine B.O. noch eine Soziale Frauenschule gegründet hat: An Henriette Arendt lässt sich eine berufspraktische Geschichte der Pflege nachvollziehen, die gerade durch ihre gebrochene Biografie mit den Schnittstellen Pflege, Frauenbewegung und soziale Arbeit die Verwobenheit dieser Bereiche auf eine auch für heutige Entwicklungen erhellende Weise verdeutlicht. Daher spricht sich Sappok-Laue nicht nur dafür aus, Arendts Werk für die heutige Pflegeausbildung zu nutzen. Sie plädiert auch dafür, weitere Lebensgeschichten aufzuarbeiten und so „der Geschichte der Pflege Gesichter zu geben“.
Eine Rezension von Martin Braun