Florian Bruns, Fritz Dross, Christina Vanja (Hrsg.)
Spiegel der Zeit
Leben in sozialen Einrichtungen von der Reformation bis zur Moderne
Festschrift für Christina Vanja
Historia Hospitalium. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte, Band 31 – 2018/19
Lit Verlag, Berlin 2020, broschiert, 618 Seiten, 49,90 €, ISBN 978-3-643-14564-2
Seit 1966 veröffentlicht die Deutsche Gesellschaft für Krankenhausgeschichte e. V. (vgl. www.krankenhausgeschichte.de) in einem zweijährigen Turnus das Jahrbuch „Historia Hospitalium“, dessen Beiträge ihren Blick auf Hospitäler, Krankenhäuser und ähnliche medizinische Organisationen unter sozial-, gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Perspektiven richten. Die aktuelle Ausgabe (Band 31), für deren Herausgabe sich Florian Bruns, Fritz Dross und Christina Vanja verantwortlich zeichnen, beschäftigt sich im wissenschaftlichen Teil unter der Überschrift „Spiegel der Zeit“ schwerpunktmäßig mit dem „Leben in sozialen Einrichtungen von der Reformation bis zur Moderne“.
Dr. med. Florian Bruns, Arzt und Medizinhistoriker, arbeitet am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, wobei zu seinen Forschungsschwerpunkten unter anderem die Medizin im Nationalsozialismus, die Patientengeschichte in der DDR sowie die Geschichte der Medizinhistoriografie gehören.
Prof. Dr. phil. Fritz Dross ist Assistent am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Friedrich-
Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Hospital- und Krankenhausgeschichte, das städtische Fürsorge- und Gesundheitswesen in der Frühen Neuzeit und die Geschichte der gynäkologischen Fachgesellschaften im 20. Jahrhundert.
Prof. Dr. phil. Christina Vanja, seit 2007 außerplanmäßige Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Kassel, leitete über 30 Jahre das Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen in Kassel und war zugleich Hochschullehrerin an der Universität Kassel. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Sozialgeschichte der Medizin, die Hospital- und Krankenhausgeschichte sowie die Psychiatriegeschichte.
Nach dem Editorial von Florian Bruns und Fritz Dross (S. 1-6) vereint das vorliegende Jahrbuch, das als Festschrift für Christina Vanja erscheint, im wissenschaftlichen Teil (S. 7-407) die durchgehend aus der Feder renommierter Wissenschaftler*innen stammenden Beiträge, die anlässlich des internationalen Symposiums zur Verabschiedung von Prof. Dr. Christina Vanja aus dem Archivdienst am 16. und 17. November 2017 im Kasseler Ständehaus gehalten wurden. Die hierzu versammelten 15 Arbeiten, die durch die von Robert Jütte gehaltene „Laudatio zur Verabschiedung von Christina Vanja aus dem Archivdienst“ (S. 375-381) und ein Verzeichnis der „Veröffentlichungen von Christina Vanja“ (S. 383-407) ergänzt werden, ordnen sich dabei den Themenbereichen „Hospital und Waisenhaus“, „Armen- und Krankenversorgung des Adels“, „Tradition und Moderne“, „Separierung und Spezialisierung der Armen- und Krankenversorgung um 1900“, „Ausgrenzung und Krankenmord im Nationalsozialismus“ und „Im Zeichen des Sozialismus: Patientensorgen in der DDR“ zu.
An den „Tagungsbericht“ (S. 409-446) über „The ‚Healthy‘ Hospital in Early Modern Austria and Germany. Session oft the European Social Science History Conference 2018 in Belfast, Northern Ireland“ schließt sich der „Gesellschaftsteil“ (S. 447-554) mit den Beiträgen der Symposien in Katowice 2017 zum Thema „Gesundheitsversorgung und Krankenhäuser in Industrieregionen“ und in Berlin 2018 zum Thema „1968 und die Medizin“ an, der durch „Berichte“ (S. 555-562) und „Rezensionen“ (S. 563-600) ergänzt wird.
Die Deutsche Gesellschaft für Krankenhausgeschichte hat erneut ein sehr umfangreiches Jahrbuch vorgelegt, das eine bunte Palette von Forschungsbeiträgen vereint. Das Hauptaugenmerk der durchgehend sehr interessanten Beiträge liegt dabei – im Unterschied zum vorhergehenden Band 30 (Berlin 2017), der sich schwerpunktmäßig mit der „Geschichte der Pflege im Krankenhaus“ beschäftigte – auf der Medizingeschichte. Ausnahme hiervon bildet der Beitrag „‚…eine Krankenpflegerin kann nicht zu viel lernen‘ – Pflegende und Ärzte im 19. Jahrhundert“ (S. 223-238) von Dr. phil. Karen Nolte, Professorin für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg und Direktorin am gleichnamigen Institut, die auf Grundlage handschriftlicher Manuskripte aus dem Archiv der Fliedner-Kulturstiftung und zeitgenössischen Krankenpflegelehrbüchern die Ausbildung protestantischer Krankenschwestern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rekonstruiert. Die Diakonissen, die auch für Seelenpflege ausgebildet wurden, die in ihrem Selbstverständnis Priorität besaß, erwarben demnach für ihre Zeit bereits gute medizinische Grundkenntnisse, indem sie „in der Gemeindepflege recht selbstverständlich im Bereich der ‚kleine Chirurgie‘ Kranke behandelten.“ Gleichwohl die Ausbildung von Diakonissen in der leiblichen Pflege weit über das hinausging, was Ärzte in der Ausbildung zur Krankenwartung für sinnvoll erachteten, sei es nicht die Leibespflege gewesen, die von diesen protestantischen Schwestern als zentral für ihr Selbstverständnis als Krankenpflegende angesehen wurde: „Vielmehr waren es die religiöse Unterweisung und die Sorge um das Seelenheil ihrer Pfleglinge – die Seelenpflege –, die ihr persönliches Handeln motivierten“
(S. 237). Ihr christlich geprägtes Krankheitsverständnis und die feste Einbindung in die Diakonissengemeinschaft sowie die Ausrichtung auf das Mutterhaus hätten demgegenüber ein eher distanziertes Verhältnis zur Medizin und zu Ärzten bewirkt.
Verstärkt die Krankenpflege in den Blick nimmt auch Dr. phil. Fruzsina Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Leipziger Diakonissenhaus, die in ihrem Beitrag „Evangelisches Krankenhaus und Gemeindepflege in ‚roter‘ Umgebung“ (S. 519-531) einen Überblick über die 125-jährige Geschichte der Einrichtung und ihr Verhältnis zur umgebenden Industrieregion gibt. Wie die Kulturhistorikerin darin unter anderem zeigt, wurde die Einrichtung als christliches Krankenhaus im „Arbeiter- und Bauernstaat“ DDR zwar geduldet, aber wenig gefördert, auch wenn es in einer industriellen Umgebung die ideologisch hochgehaltene „werktätige“ Bevölkerung versorgte. Die „weltanschauliche Differenz mit dem deklariert atheistischen Staat“ machte sich vor allem „auf dem Gebiet der Krankenpflegeausbildung bemerkbar, die wegen des SED-Monopolanspruchs auf Bildungsfragen einem ständigen Aushandlungsprozesses unterworfen war“ (S. 528). Da das Problem des Nachwuchsmangels unter den Diakonissen „nicht mehr schleichend, sondern radikal“ auftrat – die letzte Einsegnung zur Diakonisse erfolgte 1977, die vorletzte acht Jahre zuvor 1969 – musste die pflegerische Versorgung des Krankenhauses und der Gemeinden mit einem immer höher werdenden Anteil an bezahltem Personal (Verbandsschwestern und freien Kräften) geleistet werden.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling