Petra Betzien
Krankenschwestern im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager
Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst an den Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett
Pflegegeschichte im kula Verlag, Band 1
Kula Verlag, Frankfurt am Main 2018, kartoniert, 599 Seiten, 64,00 €, ISBN 978-3-945340-11-0
Die Diplom-Betriebswirtin und Historikerin (M.A.) Petra Betzien, die ihre (unveröffentlichte) Magisterarbeit an der FernUniverstät Hagen 2009 über „Das NS-Frauenbild und die Einordnung der Täterinnen in die NS-Gesellschaft“ schrieb, widmet sie sich in der vorliegenden Untersuchung – der ihre 2018 am Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften, Institut für Geschichte und Biographie der FernUniverstät Hagen vorgelegten Dissertation zugrunde liegt – der Geschichte der Krankenpflege im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, wobei im Fokus ihrer Betrachtung die Tätigkeiten und Verhaltensweisen der in den Konzentrationslagern tätigen dienstverpflichteten Krankenschwestern stehen.
Zu ihrem Forschungsthema veröffentlichte die Autorin, die in einer Behörde im Bereich des Krankenhauswesens beschäftigt ist, bereits mehrere Beiträge, so 2012 „NS-Krankenschwestern in Konzentrationslagern“ in der Fachzeitschrift „Geschichte der Pflege“, 2013 „Krankenschwestern im System der Konzentrationslager“ in dem von Hilde Steppe (1947-1999) herausgegebenen Sammelband „Krankenpflege im Nationalsozialismus“ und 2015 „Pflege ohne Ethos. Im Dritten Reich begingen auch einige Krankenschwestern entsetzliche Verbrechen“ in der „Pflegezeitschrift“.
In ihrer aktuellen Arbeit nimmt Petra Betzien sowohl die krankenpflegerischen Bedingungen in den Häftlingsrevieren in den Blick, als auch im äußeren Bereich der Lager, in den SS-Lazaretten. Zugleich fragt sie nach dem Pflegeethos und den Handlungsoptionen der Schwestern angesichts des rassenhygienischen Forderungskatalogs und der Weltanschauung des Nationalsozialismus. Ihr Erkenntnisinteresse besteht insbesondere darin, „den vermeintlichen Widerspruch und Konflikt zwischen Berufsethos und praktischer Krankenpflege im Konzentrationslager in beiden Lagerbereichen aufzuhellen und zu erklären. Ein weiteres und wesentliches Interesse besteht in einer möglichst detaillierten Nachvollziehung der Topografie der Krankenversorgung im Häftlingsrevier durch dienstverpflichtete Krankenschwestern, die bisher nur in Bruchstücken erfolgt ist, sowie in den SS-Lagerlazaretten, zu denen es bislang keine Forschung gab“ (S. 24).
Für ihre Untersuchung recherchierte die Autorin in zahlreichen in- und ausländischen Archiven und wertete eine ungewöhnlich breite Quellenbasis aus: Personalakten, amtliche Akten, Begleitschreiben zu medizinischen Proben, Statistiken, Lehrbücher, gerichtliche Zeugenaussagen, Ermittlungsberichte, autobiografische und literarische Verarbeitungen, Zeichnungen und Fotografien, die ihre Ergänzung durch einige lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Häftlingen finden.
Bereits einleitend macht Petra Betzien darauf aufmerksam, dass Krankenschwestern bei der Umsetzung der NS-Rassenhygiene und -Bevölkerungspolitik als Helferinnen mittelbar und unmittelbar zu Tatbeteiligten und Täterinnen wurden. Dabei habe es zwei unterschiedliche Arbeitswelten für Krankenschwestern im System der Konzentrationslager gegeben, die entsprechend der Patientenkategorie auch unterschiedliche Pflegezielsetzungen und -aufgaben beinhalteten. Auf der einen Seite hatten Krankenschwestern die Versorgung der Opfer zu gewährleisten, auf der anderen Seite die Pflege der Täter sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund versteht sie ihre Arbeit „zum einen als Beitrag zur Pflegegeschichte, zum anderen auch als Beitrag zur Gender-Geschichte, da deutlich gemacht werden konnte, dass Frauen, interagierend mit Männern, sich als Krankenschwestern in einer Epoche, in der ihnen noch nicht eine Gleichberechtigung und schon gar nicht Gleichstellung zugestanden wurde, über ihren Beruf ihre eigene, persönliche Nische zur Selbstverwirklichung erobern konnten“ (S. 16).
Nach der Einleitung mit einem Problemaufriss, Hinweisen zum Forschungsstand sowie den leitenden Fragestellungen gibt die Autorin, um das traditionelle pflegerische Berufsethos nachvollziehen und in seiner Bedeutung erfassen zu können, zunächst einen Überblick über die Entwicklung des Berufs der Krankenschwester in Deutschland bis 1933, bevor sie eine Einordnung der Krankenschwestern in die NS-Gesellschaft vornimmt. Ein hier integrierter Exkurs zum Thema „Moral im Nationalsozialismus“ macht deutlich, wie sich der christliche und humanistische Wertekanon in der NS-Gesellschaft veränderte und umgedeutet wurde. Breiten Raum nimmt sodann die Darstellung zur Organisation der Krankenversorgung im Konzentrationslager und SS-Lazaretten ein, an die sich eine Betrachtung der „SS-Schwestern“ im Häftlingsrevier des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück und die dortigen Handlungsabläufe anschließt. Weitere Kapitel beschäftigen sich sodann mit den Krankenschwestern in Häftlingsrevieren anderer Konzentrationslager, den Krankenschwestern in den Lazaretten der Konzentrationslager-SS sowie mit den Erklärungsstrategien der „SS-Schwestern“ in der Nachkriegszeit. Ergänzt wird die Darstellung durch einen umfangreichen Anhang, der neben dem Quellen- und Literaturverzeichnis auch ein „Verzeichnis der NS-Schwestern und DRK-Schwesternhelferinnen in den Häftlingsrevieren Lichtenberg, Ravensbrück und Auschwitz sowie in den SS-Lagerlazaretten Dachau, Auschwitz und Hohenlychen“ enthält, das nicht zuletzt im Hinblick auf weitere pflegehistorische Forschungen zur NS-Zeit eine große Bedeutung hat.
Wie Petra Betzien zeigt, konnten und sollten mit der Umorganisation und Gleichschaltung der Krankenschwesternverbände ab 1933 sowie dem Krankenpflegegesetz 1938 Krankenschwestern zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Vorstellungen von Rassenhygiene und der NS-Weltanschauung zu Erfüllungsgehilfinnen instrumentalisiert werden. Mit Hilfe der „dichten Beschreibung“ der krankenpflegerischen Praxis in den Konzentrationslagern verdeutlicht die Autorin, dass Krankenschwestern Mittäterinnen bei der Ermordung von Häftlingen werden konnten und zugleich in den SS-Lazaretten die Behandlung von Tätern und ihren Familien unterstützten. Von Anfang an waren im Häftlingsrevier die „SS-Schwestern“ im Rahmen ihrer Tätigkeit an fast allen dort begangenen Verbrechen mittelbar und / oder unmittelbar beteiligt. Da in Ravensbrück das originäre Ziel der Krankenversorgung ausschließlich in der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit bestand, „waren die Häftlinge praktisch dehumanisiert und vergleichbar mit seelenlosen Arbeitsapparaturen, deren Reparaturwürdigkeit festgestellt wurde, oder die entsorgt wurden, wenn sich das nicht mehr lohnte“ (S. 547).
Die Untersuchung von Petra Betzien lässt keinen Zweifel daran, „dass Krankenschwestern in der Zeit des Nationalsozialismus eine einmalige Aufwertung erhielten, die ihnen eine Teilhabe an der Macht über Menschen ermöglichte. Diese Macht im positiven Sinn zu nutzen oder zu missbrauchen, lag in den Häftlingsrevieren in der persönlichen Entscheidung jeder einzelnen Krankenschwester. Dass die Entscheidung möglich war, das traditionelle Berufsethos auszuüben, die christlichen humanistischen Werte dem Handeln als Maßstab anzulegen, belegen“, so die Autorin „die Ausnahmen einiger weniger mutiger Krankenschwestern in Ravensbrück, Hersbruck, Ausschwitz und auch in den besetzten osteuropäischen Staaten, die nicht nur hinsahen, sondern auch in eigener Entscheidung gegen die offiziellen Vorgaben und Anweisungen handelten“ (S. 561). Unterdessen beriefen sich alle angeklagten Krankenschwestern während ihres Prozesses auf ihre Gehorsamspflicht den Ärzten gegenüber und schoben die (nun von ihnen anerkannte) Schuld an den von ihnen begangenen Verbrechen einfach weiter oder bestritten sie schlicht.
Das rund 600 Seiten starke Buch verfügt über einen soliden Anmerkungsapparat mit gut 2.400 Fußnoten, die neben Quellenbelegen immer wieder auch weiterführende Hinweise enthalten, wodurch einzelne Aspekte leicht vertiefend betrachtet werden können. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang lediglich auch ein Hinweis auf das bisher im Umfang von neun Bänden vorliegende, von Horst-Peter Wolff (Bände 1-3) und Hubert Kolling (Bände 4-9) herausgegebene „Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte“ gewesen, das Einträge zu etlichen in der Arbeit erwähnten beziehungsweise zitierten Personen enthält, so zu Pia Bauer (1871-1954), Katharina (Käthe) Elisabeth Böttger (1895-1996), Marie Cauer (1861-1950), Johann Friedrich Dieffenbach (1792-1847), Theodor Fliedner (1800-1864), Gertrude Wilhelmine (Gerda) Ganzer (1907-1996), Karl Eduard August Hermann Genzken (1885-1957), Sylvelyn Hähner-Rombach (1959-2019), Erich Hilgenfeldt (1897-1945), Ernst Grawitz (1899-1945), Hans Harmsen (1899-1989), Hermann Jensen (1895-1946), Agnes Karll (1868-1927), Liselotte Katscher (1915-2012), Lisbeth Krzok (1909-1979), Franz Anton Mai (1742-1814), Elisabeth Marschall (1886-1947), Vera Salvequart (1919-1947), Christian Ludwig Schweickard (1746-1825), Hilde Steppe (1947-1999), Anna Sticker (1902-1995), Elisabeth Storp (1864-1941), Georg Streiter (1884-1945), Marie Stromberger (1898-1957) und Joachim von Winterfeldt-Menkin (1865-1945).
Sieht man hiervon einmal ab, hat die Autorin eine pflegehistorische bedeutsame Arbeit vorgelegt, die eine lang konstatierte Forschungslücke schließt, indem die Tätigkeit der Krankenschwestern in den Häftlingsrevieren der Konzentrationslager bisher noch völlig unzureichend erforscht und bekannt war. Zu dem umfangreichen Buch, das in keiner Bibliothek des Gesundheitswesens fehlen sollte, hat Prof. Dr. med. Eva-Maria Ulmer, emeritierte Hochschullehrerin der Frankfurt University of Applied Sciences, ein Grußwort beigesteuert, in dem sie unter anderem schreibt: „Diesem verdienstvollen Buch wünsche ich eine breite Leserschaft und viele Diskussionen. Es sei all jenen empfohlen, die nicht nur die Glanzseite der Pflegegeschichte sehen wollen, sondern die auch bereit sind, sich mit den Schattenseiten der Pflege auseinander zu setzen. Vielleicht können wir gerade daraus lernen“ (S. 8). Dem bleibt nichts hinzuzufügen.
Das Buch von Petra Betzien, das sie „all jenen (Häftlings-)Pflegekräften in der Zeit des Nationalsozialismus widmet, die mutig und imstande waren, die menschenverachtenden Forderungen einer NS-Rassenideologie beim Dienst an ihren Patientinnen und Patienten zu verweigern und zu unterlaufen“, erscheint im kula Verlag in Frankfurt am Main als Band 1 der neuen Schriftenreihe „Pflegegeschichte“. Die Bände der Reihe, mit denen der Fachverlag für Ethnologie und Kulturwissenschaften zur „Stärkung des Berufsbewusstseins in der Pflege beitragen“ möchte, sollen dabei – ganz im Sinne der Frankfurter Pflegehistorikerin Hilde Steppe – Zusammenhänge verdeutlichen, Entwicklungsprozesse aufzeigen und Erkenntnisse für Gegenwart und Zukunft ermöglichen. Von daher darf man hier schon jetzt auf die weitere Veröffentlichungen gespannt sein.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling