Marthe Burfeind, Nils Köhler, Rainer Stommer
Der Arbeiter-Samariter-Bund und der Nationalsozialismus
Vom Verbot 1933 bis zur Wiedergründung nach dem Zweiten Weltkrieg
Ch. Links Verlag. Berlin 2019, broschiert, 207 Seiten, 25,00 Euro, ISBN 978-3-96289-041-4
Der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), im Jahre 1888 in Berlin auf Initiative von Arbeitern und Handwerkern zur Selbsthilfe im Bereich der Notfallrettung und der Ausbildung in Erster Hilfe gegründet, ist heute mit über
1,3 Millionen Mitgliedern – aufgeteilt in 16 Landesverbände und 206 regionale Gliederungen (Regional-, Kreis- und Ortsverbände) – eine der größten Hilfs- und Wohlfahrtsorganisationen Deutschlands. Unter dem Motto „Wir helfen hier und jetzt“ gehören zu den zahlreichen Angeboten des ASB mit seinen rund 33.000 hauptamtlichen und 16.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen unter anderem Senioreneinrichtungen, Pflegedienste und Sozialstationen, Tagespflege, Hausnotrufe, Essen auf Rädern, Hilfe für pflegende Angehörige, Angebote für Menschen mit Behinderung, Fahrdienste, Kinderbetreuung sowie Familien- und Haushaltshilfe (https://www.asb.de).
Nach der Veröffentlichung des Buches von Wilhelm Müller „Der Arbeiter-Samariter-Bund. Eine Biografie“ (Köln 2013), das auf die 125-jährige Verbandsgeschichte zurückblickt, und der fünf Jahre später – anlässlich seines 130-jährigen Jubiläums 2018 – präsentierten Onlineausstellung „https://asb.pageflow.io/130-jahre-asb#165913“, legte der Verband nun erstmals eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zu seiner Geschichte im Nationalsozialismus vor, mit deren Erforschung er im September 2017 Marthe Burfeind (M.A.), Dr. phil. Nils Köhler und Dr. phil. Rainer Stommer, allesamt Historiker*innen der Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte (EBB) Alt Rehse e.V. (http://ebb-alt-rehse.de/), beauftragte. Zur Begründung des Forschungsprojektes sagte ASB-Bundesvorsitzender Knut Fleckenstein: „Auch wenn der ASB 1933 verboten und als Institution aufgelöst wurde, hieß das ja nicht, dass die Samariter als Individuen aufhörten zu existieren. Was wurde aus den 52.000 Samaritern, den 1.200 approbierten ASB-Ärzten, den Masseuren, Pflegekräften, Kolonnen und den Erholungs- und Kindererholungsheimen nach der Auflösung des Arbeiter-Samariter-Bundes zum 1. September 1933 durch die Nationalsozialisten?“
Das konkrete Anliegen des ASB war dabei, wie das Autorenteam in seiner Einführung (S. 7-9) schreibt, „eine eingehende Betrachtung der Monate bis zur Auflösung des Verbands zwischen Januar und September 1933 und die Untersuchung der Wiedergründung nach 1945. Nicht zuletzt wollte man anhand biografischer Beispiele über das Agieren wichtiger ehemaliger Akteure des Verbands zwischen 1933 und 1945 gesicherte Informationen erhalten. Es sollte überdies exemplarisch das Verhalten von Protagonisten des nach 1945 wiedergegründeten ASB während der NS-Zeit in den Blick genommen werden.“ Dementsprechend ging es um die Fragen, ob die Kolonnen des ASB wirklich komplett im Deutschen Roten Kreuz (DRK) aufgingen, was viele einstige ASB’ler dazu veranlasste, sich ab Mai 1945 wieder ihrer Wurzeln zu besinnen und was mit den Einrichtungen geschah, die der ASB vor allem in den 1920er Jahren aufgebaut hatte?
Gestützt auf die zentralen Bestände im Archiv des ASB-Bundesvorstands in Köln sowie weiterer personen- und ortsbezogener Reihenquellen, wie beispielsweise das Reichsärzteverzeichnis, die Karteien der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und ihrer Gliederungen, Häftlingskarteien von Konzentrationslagern, Wiedergutmachungs- und Entnazifizierungsakten, folgen Marthe Burfeind, Nils Köhler und Rainer Stommer in ihrer umfangreichen Studie zunächst den höchst unterschiedlichen Wegen der Arbeitersamariter zwischen Verfolgung und Verstrickung bis 1945, bevor sie anschließend die Wiedergründung des ASB nach Kriegsende und die handelnden Personen betrachten sowie Kontinuitäten und Brüche einordnen.
Das großformatige Buch gliedert sich dabei in fünf Kapitel. Auf eine Bestandsaufnahme des ASB am Ausgang der Weimarer Republik (S. 10-37) folgt ein Überblick über die Etappen der „Machtergreifung“ des NS-Staates und die Auswirkungen auf die Arbeiterbewegung
(S. 38-47), an die sich eine Betrachtung über das Verbot des Arbeiter-Samariter-Bundes 1933 in den dezentralen Strukturen des NS-Staats (S. 48-87) anschließt. Im Anschluss an die Wiedergabe von 20 exemplarischen Lebenswegen von Samariterinnen und Samaritern (S. 88-153) wird schließlich der Neubeginn des Arbeiter-Samariter-Bundes in Augenschein genommen (S. 154-176) und die Forschungsergebnisse in Form von einem Resümee (S. 178-181)
zusammenfassend vorgestellt.
Wie die mit zeitgenössischen Schwarzweiß- und Farbabbildungen reichlich illustrierte Darstellung zeigt, war der überparteiliche ASB ein aktiver Teil der Arbeiterbewegung und deswegen schon vor 1933 in Konflikte mit den Nationalsozialisten geraten. Nach deren „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 ging der NS-Staat aktiv gegen den ASB vor; im März 1933 kam es zu ersten Übergriffen auf ASB-Kolonnen, an die sich erste Verbote des ASB in Bayern und Braunschweig anschlossen, bevor der ASB zum 1. September 1933 schließlich reichsweit aufgelöst wurde. Enteignet, gelangte das Eigentum der Kolonnen zum Teil an die SA (Sturmabteilung) oder SS (Schutzstaffel), während es in anderen Fällen an das DRK überging, dem sich einzelne Samariter, manchmal auch ganze Kolonnen, angeschlossen hatten.
Die Untersuchung belegt, dass der ASB bis 1933 seinen Platz in der deutschen Gesellschaft als neutrale Hilfsorganisation immer wieder absteckte, indem er seine Überparteilichkeit deutlich herausstellte. Dies sei notwendig gewesen, um staatliche Anerkennung und öffentliche finanzielle Unterstützung zu erhalten, um die überwiegend ablehnende Haltung der konservativen Ärzteschaft abzubauen, aber auch, um sich aus den polarisierten Konflikten der Parteien und Institutionen des linken politischen Lagers herauszuhalten. Wegen seiner Präsenz bei den Kundgebungen und Aufmärschen von „Reichsbanner“ und „Eiserner Front“ sei der ASB aber schon vor 1933 auf lokaler Ebene in Konflikte mit der NSDAP beziehungsweise der SA geraten. Wenngleich er „alles Machbare“ versucht habe, um die Existenz der Organisation zu sichern, wäre der ASB – mit der Umsetzung der Richtlinien zur Überführung des Arbeiter-Samariter-Bundes in das Deutsche Rote Kreuz vom 15. Juli 1933 – am 1. September 1933 reichsweit auf allen Ebenen aufgelöst worden. Hierzu hält die Autorenschaft wörtlich fest: „Den Nationalsozialisten gelang damit binnen weniger Monate die Zerschlagung des ASB, in vielen Orten jedoch nicht die Zerstörung des Kontakts unter den Arbeitersamaritern. Die Bindungskräfte dieser Netzwerke sollten sich zwölf Jahre später als tragfähig genug erweisen, um eine Wiedergründung von ASB-Kolonnen zu
ermöglichen“ (S. 179).
Während der ASB als Organisation ein frühes Opfer der Nationalsozialisten geworden sei, müsse für die Mitglieder, so Marthe Burfeind, Nils Köhler und Rainer Stommer, „die Bewertung differenzierter ausfallen: als Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten wurden diese brutal verfolgt, ermordet, in die Flucht oder gar den Suizid getrieben. Allerdings muss betont werden, dass der primäre Verfolgungsgrund in diesen Fällen nicht die Mitgliedschaft im ASB war“ (S. 179). Dieser Aspekt sei in den allermeisten Fällen nur „Beifang“ gewesen.
Ebenso müsse – abgesehen von den Menschen, die aus rassenideologischen Gründen verfolgt wurden – sorgfältig unterschieden werden zwischen Funktionsträgern und einfachen Samaritern. Für die Ärzte, die sich mit ihrer Mitgliedschaft im ASB sehr deutlich von den konservativ geprägten Ärzteverbänden abgrenzten, und die Mehrzahl der Kolonnenführer gelte, dass diese in der Regel nicht nur im ASB organisiert waren. Vielmehr habe es sich zumeist „um exponierte Köpfe in der örtlichen Arbeiterbewegung“ gehandelt, die auch in einer Partei und in weiteren entsprechenden Verbänden und Vereinen engagiert waren. Als „Marxisten“ verunglimpft und gebrandmarkt, habe ihnen Schutzhaft, Konzentrationslager und Terror gedroht. Dem „einfachen Samariter – wie auch dem einfachen Mitglied der SPD“ habe das NS-System hingegen durchaus Möglichkeiten offeriert, sich einzuordnen in die „NS-Volksgemeinschaft“, ob er innerlich distanziert blieb oder nicht. Hierzu schreibt die Autorenschaft zusammenfassend: „Die Mehrheit der ASB-Mitglieder hatte bis Frühjahr 1933 den Nationalsozialisten fraglos skeptisch oder ablehnend gegenübergestanden. Trotz der vielfach betonten politischen Neutralität bedeutete die Mitgliedschaft im ASB eine Positionierung im linken politischen Spektrum. Selbst jene, die vielleicht nur durch das Werben von Freunden oder Bekannten ohne eine politische Verortung zum ASB gekommen waren, hatten schon vor dem Januar 1933 ihre unangenehmen Erfahrungen machen müssen mit der vielfach von Gewalt begleiteten Aggression der örtlichen SA gegen ASB-Kolonnen.“
Nach dem Krieg habe sich gezeigt, dass beim Aufbau des ASB – trotz der bitteren Erfahrungen, die manche seiner Mitglieder hatten machen müssen – die Jahre von 1933 bis 1945 eine untergeordnete Rolle spielten. Während in der Sowjetischen Besatzungszone der neue ostdeutsche Staat nur das DRK genehmigte, sei es in den westlichen Besatzungszonen mit den Neugründungen am schnellsten in der britischen vorangegangen. Dabei habe es einige Zeit gebraucht, bis die Arbeitersamariter aus den drei westlichen Zonen zueinanderfanden. Marthe Burfeind, Nils Köhler und Rainer Stommer betonen an dieser Stelle, dass diese Aufbauphase Kraft kostete. Vor allem durch die persönliche Aufopferung und den individuellen finanziellen Einsatz vieler alter und neuer Arbeitersamariter habe der Wiederaufbau gelingen und zugleich die Grundlage für den späteren Aufstieg des ASB zu einer der größten Hilfs- und Wohlfahrtsorganisationen Deutschlands gelegt werden können.
Insgesamt betrachtet handelt es sich bei dem vorliegenden Forschungsbericht, der über einen Anhang (S. 182-205) mit solidem Anmerkungsapparat, Abkürzungsverzeichnis, Abbildungsnachweis, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Ortsnamensregister verfügt, um einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte des ASB während des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit. Die Veröffentlichung ist umso mehr zu begrüßen, als bisher nur einige regionale Studien zum Thema vorliegen.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling