„... der Dienst der Diakonie, das sind Jesu Hände.“ Die Diakonissen des Naemi-Wilke-Stifts in Guben 1878-2008

der Dienst der Diakonie das sind Jesu HändejpgWolfgang Rose
„... der Dienst der Diakonie, das sind Jesu Hände.“ Die Diakonissen des Naemi-Wilke-Stifts in Guben 1878-2008

(Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V., Band 17). Bebra Wissenschaft Verlag. Berlin 2015, 192 Seiten, gebunden, 26,00 €, ISBN 978-3-95410-068-2

Seit 1878 ist das Naemi-Wilke-Stift (www.naemi-wilke- stift.de) in Guben (Niederlausitz) als kirchliche Stiftung weit über die regionalen Grenzen hinaus bekannt. Die vor nunmehr gut 130 Jahren durch den Gubener Hutfabrikanten und Geheimen Kommerzienrat Friedrich Wilke (1829-1908) gegründete Stiftung – die nach Naemi, der Tochter der Wilkes benannt ist, die im Alter von knapp 14 Jahren an Typhus starb und damit diese Stiftung ausgelöst hat – vereint heute neben einem Krankenhaus verschiedene Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge und unterhält Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und Familien. Mit zirka 400 Beschäftigten in der Stiftung und ihren Tochtergesellschaften, der Medizinischen Einrichtungsgesellschaft mbH (MEG) und der Verwaltungs- und Service GmbH (V&S), werden so jährlich mehrere tausend Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen begleitet. Während in den letzten Jahren die ohnehin spärlich vorliegenden Forschungsarbeiten zur historischen Entwicklung der katholischen Krankenpflege kaum eine Bereicherung erfuhren, gaben die Jubil en in der Entwicklung einiger Diakonissenmutterh user den Anlass für Auftragsforschungen, aus denen unter anderem 2014 die Schrift von Annett Büttner über die „Diakonissenanstalt Dresden 1844-2014“1 und 2015 die vorliegende Arbeit von Wolfgang Rose über „Die Diakonissen des Naemi-Wilke-Stifts in Guben 1878-2008“ hervorgingen.

Nach seinem Studium der Geschichte und Altamerikanistik in Potsdam und Berlin wirkte der Autor, M.A. (Jahrgang 1962), von 2002 bis 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Projekt „Wohlfahrtspflege und Fürsorge in der preußischen Provinz Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert“ der Universität Potsdam mit, bevor er von 2009 bis 2014 in der DFG-Forschergruppe „Kulturen des Wahnsinns“ am Charité Institut für Geschichte der Medizin arbeitete. Wolfgang Rose veröffentlichte Schriften zur Medizingeschichte und zur regionalen Geschichte im Land Brandenburg, darunter (mit Annette Weinke) „Anstaltspsychiatrie in der DDR. Die brandenburgischen Kliniken zwischen 1945 und 1990“ (Berlin 2005) und (mit Tobias Öchsle) „August Julius Wredow. Leben und Vermächtnis – eine Annäherung“ (Berlin 2017). Im Hinblick auf die Geschichte der Krankenpflege sind vor allem seine Beiträge „Das Naemi- Wilke-Stift im Kaiserreich (1877-1918)“ und „Das Naemi-Wilke-Stift im Dritten Reich“ hervorzuheben, die er zu dem von Stefan Süß und Gottfried Hain herausgegebenen Band „Das Naemi-Wilke-Stift in Guben. Eine Stiftung zwischen Tradition und Moderne“ (Berlin 2005) beisteuerte.

Geschichte kann bekanntlich verschieden geschrieben werden. Anknüpfend an die 2005 erschienene Publikation zur historischen Entwicklung dieser diakonischen Institution wird nun die Geschichte derjenigen erzählt, durch deren persönlichen Einsatz ganz wesentlich die Aufgabe der Stiftung als „Werk christlicher Liebestätigkeit“ mit Leben erfüllt wurde. Entsprechend dem hierfür vom Autor gewählten Biografie geschichtlichen Ansatz gliedert sich der Band thematisch in die Kapitel „Der Entschluss“ (S. 11- 30), „Die Aufnahme“ (S. 31-56), „Die Glaubensgemeinschaft“ (S. 57-74), „Die Dienstgemeinschaft“ (S. 75- 106), und „Die Lebensgemeinschaft“ (S. 107-135), wobei die gewählten Überschriften darauf hinweisen, dass hier die Diakonissen selbst st rker im Zentrum des Interesses stehen als die Institution Mutterhaus. Sr. Adelheid Hahn, die letzte, emeritierte Oberin des Naemi-Wilke-Stiftes steuerte zu dem Buch ein Vorwort bei, indem sie insbesondere auf das Jahr 2008 verweist, als die Diakonissen mit der Übergabe des „Diakonissenvermächtnisses an den Stiftsvorstand“ die besondere Etappe der Mutterhausdiakonie im Naemi-Wilke-Stift beendeten. Zur Bedeutung und Intention der Veröffentlichung hält sie sodann wörtlich fest: „Das Buch erinnert an diese Geschichte und würdigt damit diesen besonderen geistlichen Dienst, den Diakonissenmutterhäuser Kaiserswerther Prägung an mehr als 70 Standorten in Deutschland geleistet haben und weiterhin in anderer Form leisten. Es ehrt zugleich die vielen Schwestern, die von Guben aus den Dienst barmherziger Nächstenliebe getan haben“ (S. 7).

In ihrer Einführung halten Rektor Pfarrer Stefan Süß und Verwaltungsdirektor Gottfried Hain zur Entstehung des Buches fest: „1883/84 kam es zur Gründung eines eigenen Diakonissenmutterhauses im Naemi-Wilke-Stift. Von den inzwischen 137 Jahren Stiftsgeschichte ist die bisher längste Zeit durch Schwestern des Diakonissenmutterhauses geprägt worden. Der Rückgang dieser prägenden Entwicklung begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Inzwischen stehen wir am Ende dieser besonderen Mutterhaus-Geschichte im Naemi-Wilke- Stift, das bereits 2008 mit dem Diakonissenvermächtnis markiert worden ist. Dies war Anlass für den Vorstand, nunmehr auch dieses Buch zu beauftragen“ (S. 9).
Neben einem Nachwort von Pfarrer Stefan Süß wird der Band durch einen Anhang ergänzt, der unter anderem wichtige Daten zur Geschichte des Diakonissenmutterhauses im Naemi-Wilke-Stift Guben, Schwesternlisten sowie Anmerkungen und den Abbildungsnachweis enthält.
Wie die Darstellung von Wolfgang Rose zeigt, begriffen die evangelisch-lutherischen Schwestern des Diakonissenmutterhauses im Gubener Naemi-Wilke-Stift ihre Tätigkeit des Helfens und Heilens als „Jesu Hände“. Das Wirken der Diakonissen war dabei von Frömmigkeit ebenso wie von lebenspraktischem Realismus geprägt. Gestützt auf Archivalien und zeitgenössische Veröffentlichungen zeichnet der Autor das Bild einer Gemeinschaft, die unter wechselnden politischen und sozialen Bedingungen an dem Anspruch festhielt, Dienst für die Schwächsten der Gesellschaft zu leisten. Zugleich kommen die Ursachen für Entstehung, Blütezeit und Ende der weiblichen Diakonie als einer historisch bedingten Form sozialer Arbeit in den Blick, wobei auch die NS-Zeit – Sterilisierungen von psychisch kranken und behinderten Menschen wurden auch im Krankenhaus des Naemi-Wilke-Stifts vorgenommen, ebenso wie der Abtransport von behinderten Pfleglingen im Rahmen der „Euthanasie“-Mord-Aktion T 4 – nicht ausgeblendet wird.
Wie Wolfgang Rose darlegt, war bereits der Entschluss, in ein Diakonissenmutterhaus einzutreten, nicht nur eine Berufswahl: „Wer sich dafür entschied, wählte einen bestimmten Lebensentwurf; eine Gemeinschaft unverheirateter Frauen, die sich dem Dienst an Hilfsbedürftigen aller Art ‚weder um Lohn noch um Dank‘ verschrieben hatte und deren Zusammenleben stark von den Regeln einer gemeinsamen Glaubenspraxis geprägt war“ (S. 11). Beides habe den Alltag und damit auch die Biografien der Mitglieder dieser Glaubens-, Dienst- und Lebensgemeinschaft strukturiert.

Die Aufnahme ins Gubener Mutterhaus war dabei laut Wolfgang Rose zunächst ein bürokratisches Verfahren gewesen, bei dem die eingereichten Bewerbungspapiere – insbesondere der Geburts- und Taufschein, der Lebenslauf, das seelsorgerische Zeugnis und das ärztliche Gesundheitszeugnis – eine bedeutende Rolle spielten. Im Gegensatz zu diesen „äußeren Dingen“ hätten die „inneren Dinge“ sehr viel mehr Zeit in Anspruch genommen: „Es war ein längerer spiritueller Prozess, den eine Reihe von Ritualen begleitete und der seinen Höhepunkt in der Einsegnung zur Diakonisse fand“ (S. 56). Wie der Autor weiterhin darlegt, war Religiosität stets ein zentrales Moment für das Handeln der Gubener Schwestern, auch wenn es in den Bewerbungsunterlagen manchmal in den Hintergrund tat und im bürokratischen Aufnahmeverfahren teilweise von anderen Erwartungen überdeckt wurde. Diakonisse zu sein habe nicht nur einen sozialen Status der betreffenden Person markiert, sondern sei zugleich auch aufs Engste mit der religiösen Praxis – im Fall des Gubener Mutterhauses mit der lutherischen Form des christlichen Glaubens – verbunden gewesen. Die Akzeptanz der religi sen Seite des diakonischen Wirkens sei mit der zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft immer geringer und damit ihre Durchführung schwieriger geworden. Gleichwohl lasse sich „ohne diese starke religiöse Bindung […] der teilweise aufopfernde Dienst für schwache, kranke, behinderte oder sozial benachteiligte Menschen, den die Gubener Schwestern mehr als ein Jahrhundert lang leisteten, nicht erklären“ (S. 74).
Frauen, die in die „Dienstgemeinschaft“ der Gubener Schwestern eintraten, begaben sich nach Wolfgang Rose in ein patriarchales Arbeitsverhältnis. In dem Kaiserswerther Modell der weiblichen Diakonie, das auch in Guben galt, sei das Mutterhaus als bürgerliche Familie angelegt gewesen. Der Pastor als Vorsteher übernahm dabei die Vaterrolle, während die Oberin als Mutter angesehen wurde. Die Diakonissen waren demnach ihre Kinder, denen ihre Sorge galt, solange sie Teil der „Familie“ waren, auch im Fall von Krankheit oder dauernder Arbeitsunfähigkeit. „Die Kehrseite dieser sozialen Absicherung“, so der Autor, „war die bedingungslose Unterordnung unter die Anordnungen der Mutterhausleitung“ (S. 101).
Die Glaubens- und Dienstgemeinschaft des Gubener Mutterhauses, die sich weitgehend aufgrund vorgegebener Bedingungen konstituierte, wurde während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mitunter auf harte Proben gestellt, wie der Autor am Schicksal von Maria Oppenheimer zeigt. Die Diakonisse jüdischer Herkunft wurde aus dem Beruf vertrieben und ins Warschauer Ghetto deportiert, wo sie vermutlich starb. Die persönlich loyale Haltung der Mutterhausleitung gegenüber ihrer stigmatisierten Schwester reichte nicht aus, um sie vor der Vernichtung zu bewahren. Auch ihre Mitschwestern waren dazu nicht in der Lage, bekundeten aber ihre freundschaftliche Verbundenheit – auch gegen das von der nationalsozialistischen Obrigkeit postulierte Kontaktverbot zu „Nichtariern“.

Das Buch ist durchgehend mit zahlreichen Abbildungen und historischen Dokumenten illustriert. Zudem enthält es eine Bildserie „Aus dem Leben der Diakonissen“ (Seite 161-174), die sich aus zwei Quellen speist: einer Sammlung der Schwester Emma Gütebier – die 1936, 19-jährig, dem Gubener Mutterhaus beigetreten war und auf verschiedenen Stationen des Krankenhauses und Außenstationen gearbeitet hatte – und Aufnahmen des Fotografenmeisters Karl Freytag von 1952. Während erste, aus der Erinnerung kommentiert, einen sehr persönlichen Einblick in mehrere Jahrzehnte des Lebens in der Gubener Schwesternschaft geben, zeigen letztere, vermutlich vom damaligen Vorsteher Superintendent Wilhelm Brachmann und Oberin Else Frey zur Werbung für das von Nachwuchssorgen geplagte Mutterhaus in Auftrag gegeben, die Diakonissen in verschiedenen Arbeitsfeldern und Räumlichkeiten des Naemi-Wilke-Stifts. Dem Autor wie dem Naemi-Wilke-Stift kann man zu der gelungenen Publikation nur gratulieren. Das mit einem profunden Anmerkungsapparat ausgestattete Buch kann allen an der Geschichte der Krankenpflege Interessierten zur Lektüre wärmstens empfohlen werden. Möge die Veröffentlichung zugleich als Orientierung für die Erarbeitung künftiger „Festschriften“ dienen.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling


1 Vgl. die Rezension des Verfassers unter: www.socialnet.de/rezensionen/16973.php [06.06.2014]).