Anja Katharina Peters
Nanna Conti (1881-1951). Eine Biographie der Reichshebammenführerin
(Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung, Band 50)
Lit Verlag. Münster 2018, 439 Seiten, broschiert, 44,90 Euro, ISBN 978-3-643-13985-6
Im Jahre 1938 beschlossen die Nationalsozialisten das „Reichshebammengesetz“ (RHG), von dem einige Regelungen bis heute Bestand haben. Maßgeblich daran beteiligt war die „Reichshebammenführerin“, die Säuglingsschwester und Hebamme Nanna Conti. Die positive Bewertung ihrer Rolle bis in die 1980er Jahre durch die deutschen Hebammen und ihre Vernachlässigung in der bisherigen Medizingeschichte nahm Anja Katharina Peters (http://www.anja-peters.de/) zum Anlass für die vorliegende Biographie, bei der es sich um die redaktionell bearbeitete und um einen Anhang gekürzte Fassung ihrer Dissertation aus dem Jahre 2014 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald handelt (Volltext unter: http://ub-ed.ub.uni-greifswald.de/opus/volltexte/2014/1948/pdf/diss_Peters_AnjaKatharina.pdf). Neben der Monografie „Der Geist von Alt-Rehse. Die Hebammenkurse an der Reichsärzteschule 1935-1941“ (Frankfurt am Main 2005) veröffentlichte die Autorin, Kinderkrankenschwester und Diplom-Pflegewirtin (FH), zahlreiche Buch- und Zeitschriftenbeiträge zur Medizin- und Pflegeschichte; zudem hat sie einen „Blog“ auf „www.station24.de“ und twittert unter „@thesismum“ und „@Histnut_Nurse“.
Nach Vorwort und Einleitung gliedert sich das Buch in die folgenden sechs Kapitel, die ihrerseits zahlreiche Unterkapitel und mehrere Exkurse enthalten:
- Methodisches Vorgehen
- Bedingungen
- Berufspolitik
- Strategien und Taktiken
- Konsequenzen
- Zusammenfassung und Fazit.
Ergänzt wird die Darstellung durch ein Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einen Abbildungsteil.
Peters präsentiert Nanna Contis Leben als ein Konzept, als eine Beschreibung dargestellter Ereignisse, wobei sie insbesondere der Frage nach Contis Rolle im Nationalsozialismus und ihrer Verantwortung nachgeht. Den Fokus richtet sie dabei auf die „Bedingungen ihres Handelns, die Interaktion zwischen ihr und anderen Akteurinnen und Akteuren, ihre Strategien und Taktiken und auf die Konsequenzen ihres Handelns für sie selbst und andere“ (S. 12). Zugleich richtet die Autorin ein besonderes Augenmerk auf die sozialen Bezüge Contis – ihre Familie, Weggefährtinnen und -gefährten, Gegnerinnen und Gegner. Im Hinblick auf ihr Forschungsinteresse schreibt sie: „Es ist das Anliegen dieser Arbeit, die verstreuten Fragmente zu Nanna Contis Leben und Handeln zusammenzutragen, einzuordnen, zu deuten und so zur Analyse des Handelns von Hebammen im nationalsozialistischen Deutschen Reich beizutragen“ (S. 13).
Nach Hinweisen auf ihr methodisches Vorgehen stellt Peters zunächst im Kapitel „Bedingungen“ den familiären und weltanschaulichen Referenzrahmen Nanna Contis dar. In chronologischer Abfolge zeichnet sie dabei dezidiert den Weg Contis von ihrem Geburtsort Uelzen bis zu ihrem späteren Lebensmittelpunkt Berlin nach und veranschaulicht zugleich die Einflüsse, die ihr Denken prägten. Darüber hinaus befasst sie sich mit Contis Konzept von Mutterschaft als wesentlichen Bezugspunkt für ihre Tätigkeit als Hebamme und Hebammenfunktionärin sowie mit den Lebensläufen ihrer drei Kinder, die emotional, beruflich und politisch eng mit ihr verbunden waren. In diesem Kontext zeichnet die Autorin schließlich auch die politische Radikalisierung Contis nach, die zeitgleich mit der ihrer Söhne verlief.
Im Mittelpunkt des Kapitels „Berufspolitik“ steht die Tätigkeit Contis im Neupreußischen Hebammenbund, die „Gleichschaltung“, ihre praktische Arbeit nach 1933 sowie Auseinandersetzungen und Kooperationen. In einem Exkurs skizziert Peters sodann die Tätigkeit Contis für den „jüdischen“ Gynäkologen Dr. Bruno Wolff, bevor sie Contis „Zufluchtsort“ Mellensee vorstellt.
Im umfangreichsten Kapitel „Strategien und Taktiken“ beschäftigt sich die Autorin mit diversen Themenbereichen, die Nanna Contis Arbeit für die Reichsfachschaft Deutscher Hebammen / Reichshebammenschaft prägten oder bisher noch nicht explizit in Bezug auf Nanna Conti untersucht wurden: ihre Visitationsberichte, das Engagement im internationalen Hebammenverband, ihre Publikationen außerhalb der Hebammenzeitschrift, ihre Stellungnahmen zur Eugenik, die Hebammenarbeit in Zusammenhang mit der „Euthanasie“, Nanna Contis Kontakte zum „Lebensborn“, ihr ausgeprägter Antikatholizismus und ihr Rassismus, das 1938 erlassene Reichshebammengesetz, die Eingliederung der österreichischen Hebammen, die geburtshilfliche Betreuung der Zwangsarbeiterinnen, die Einbeziehung der Hebammen in die Eroberung Osteuropas, die Fortbildung der Hebammen in Alt Rehse und Berlin-Neukölln sowie am Tropeninstitut in Hamburg und schließlich die finanzielle Absicherung der Organisation durch Nanna Conti.
In drei Exkursen widmet sich Peters sodann den Schicksalen jüdischer Hebammen, dem Schicksal des jüdischen Arztes Prof. Philipp Schwartz und dem unangepassten Verhalten einer thüringischen Hebamme sowie Nanna Contis direkter und indirekter Beziehung zu diesen Menschen.
Im Kapitel „Konsequenzen“ beschreibt die Autorin nicht nur Nanna Contis Flucht nach Schleswig-Holstein und ihr dortiges Leben nach Ende des Krieges, sondern auch den schwierigen Umgang der Nachkriegsverbände mit ihrer ehemaligen Führerin, die Auswirkungen des Reichshebammengesetzes auf die Situation der Hebammen in der Bundesrepublik Deutschland sowie das materielle Erbe der Hebammenverbände.
Stellten bisherige Arbeiten vor allem die Situation der Hebammen im Nationalsozialismus oder ihrer Berufsorganisation unter Nennung Nanna Contis dar, hat Peters – gestützt auf eine breite Quellenbasis, darunter archivalische Quellen aus rund 60 Archiven und eine Vielzahl zeitgenössischer Veröffentlichungen – erstmals diese Situation explizit aus der Person Nanna Contis heraus oder in Hinblick auf sie untersucht. Wie sie hierbei zeigen kann, wuchs Conti in einer protestantisch geprägten, nationalkonservativen preußischen Familie auf, wobei sie als einschneidende Kindheitserlebnisse die Verarmung der Familie, den frühen Tod ihres Bruders und den Umzug in die Schweiz erlebte. Obwohl Nanna Contis Schulbildung der einer bürgerlichen Tochter entsprach, ergriff sie den Beruf der Hebamme, der zwar einen sozialen Abstieg bedeutete, sie aber in die Lage versetzte, ihre Familie zu ernähren.
Für die völkische und antisemitische Grundhaltung Contis während der Weimarer Republik brachte der Machtantritt der NSDAP einen „rasanten Bedeutungszuwachs“. Dabei entsprach ihre Vorstellung von Mutterschaft, wie die Autorin nachweist, voll der eugenischen, nationalen, rassistischen wie der gesellschaftlichen und propagandistischen Bedeutungszuschreibung des Begriffs im Nationalsozialismus. Nanna Conti teilte und propagierte das ideologisch aufgeladene Mutterbild des Nationalsozialismus aber nicht nur, sondern setzte gleichzeitig eigene Akzente in Fragen der Kindererziehung und auch in Bezug auf die Rolle des Vaters.
Der politische Erfolg von Nanna Conti lässt sich nach Ansicht von Peters vor allem aus der Interaktion mit ihrem Sohn Leonardo Conti erklären. Während Nanna Conti dem aufstrebenden Gesundheitspolitiker Leonardo die Loyalität der Hebammen, einer im Nationalsozialismus umworbenen Berufsgruppe, sicherte, habe Leonardo Conti seiner Mutter den notwendigen Rückhalt in Politik und in großen Teilen widerstrebender Ärzteschaft verschafft, um jahrzehntealte Hebammenforderungen durchzusetzen. Ihre „außerordentlich gute Vernetzung“ habe ihr zudem die Autorität gegeben, den Einheitsverband der Hebammen im Sinne einer Führerorganisation umzugestalten.
Nach Darstellung der Autorin erreichte Nanna Conti den Höhepunkt ihrer Karriere 1938/39 mit der Verabschiedung des Reichshebammengesetztes. Wenngleich sie dabei den „Primat der Hausgeburt“ nicht gesetzlich verankern konnte, hätten ihr Hebammen im In- und Ausland Bewunderung entgegengebracht. Selbst die International Confederation of Midwives (ICM), die unmittelbar nach dem Krieg jeden Kontakt zu ehemaligen Nationalsozialisten ablehnte, habe Nanna Conti bald darauf wieder durch Erwähnung auf Kongressen und erste Präsidentin geehrt. Über das Geschehen hält Peters fest: „Offensichtlich vernebelte die einzigartige Stellung der Hebammen in Österreich und Deutschland in der Geburtshilfe den Blick auf die im RHG verankerte Ausgrenzung jüdischer und politisch missliebiger Hebammen. Diese Sichtweise änderte sich erst allmählich in den 1990er Jahren, ohne dass dies Konsequenzen gegenüber den Nachkommen verfolgter Hebammen nach sich gezogen hätte. Ähnlich unbekümmert ging der westdeutsche Hebammenverband mit dem wieder erhaltenen NS-Vermögen um, das er im Wesentlichen den Bemühungen Nanna Contis zu verdanken hatte“
(S. 357).
Aufgrund ihrer Arbeit bemängelt die Autorin, dass sich die Hebammenorganisationen im In- und Ausland bisher nicht mit der Frage auseinandergesetzt haben, inwieweit das Gedankengut, das in den maßgeblich von Nanna Conti vorangetriebenen Fortbildungskursen in Alt Rehse, Hamburg, Berlin-Neukölln und in dezentralen Veranstaltungen vermittelt wurde, das Denken und Handeln von Hebammen über 1945 hinaus beeinflusste. Ebenso habe bis heute keine Abgrenzung gegenüber den Führerinnen von Nanna Contis Gnaden stattgefunden, die nach 1945 und bis weit in die Geschichte der alten Bundesrepublik hinein die Geschicke der Hebammenverbände beeinflussten. Eine Diskussion innerhalb der ICM über die Unterstützung der Reichshebammenschaft und die intensive Kooperation auf nationaler und internationaler Ebene sei ebenfalls bisher nicht erfolgt. Zusammenfassend hält Peters fest: „Was immer Nanna Conti in den Jahren zwischen 1933 und 1945 leistete – die umfassende Repräsentanz im In- und Ausland, den erfolgreichen internationalen Kongress in Berlin, die Vertretung der deutschen Hebammen in der IMU, die Arbeit für das RHG – stand unter dem Zeichen des Hakenkreuzes. Ihre Biographie kann somit nur als die einer nationalsozialistischen Funktionsträgerin geschrieben und gelesen werden“ (S. 359).
Alle bisher vorgestellten Porträts über Nanna Conti stützen sich vergleichsweise unkritisch auf propagandistisch gefärbte NS-Literatur. Hiervon grenzt sich die profunde, mit einem soliden Anmerkungsapparat ausgestattete Arbeit von Peters deutlich ab. Der Autorin kann man daher zu dieser Arbeit nur gratulieren, zumal es ihr gelungen ist, erstmals den familiären Kontext von Nanna Conti anhand vieler und unvollständiger Quellen zu rekonstruieren. Die Biographie, die den Blick stets über den Tellerrand hinaus richtet und zugleich spannend zu lesen ist, schließt nicht nur eine Lücke in der bisherigen Geschichtsschreibung über Hebammen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern leistet auch einen wertvollen Beitrag zur Beurteilung der Rolle der Frau in der NS-Gesellschaft und der Begriffsdefinition der „Täterin“. Von daher sollte das Buch, dem ein großer Leserkreis zu wünschen ist, zur Pflichtlektüre für alle angehenden Hebammen gehören.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling