Erhard Knauer (Hrsg.)
Leben in Haus 5. Die Geschichte des Bewahrungshauses in Düren: Zeitzeugen berichten über 1950-1986.
Psychiatrie Verlag. Köln 2018, 159 Seiten, gebunden, 20,00 Euro, ISBN 978-3-88414-945-4
Nachdem bereits 1825 in Siegburg die erste „Rheinische Irrenanstalt“ eröffnet worden war, bemühte sich der Provinziallandtag der Rheinprovinz um die Errichtung einer Bewahranstalt zur Unterbringung „der irren Verbrecher und verbrecherischen Irren.“ 1897 wurde der Bau einer solchen Einrichtung genehmigt und in Düren im Jahre 1900 als „Pavillon für 48 irre Verbrecher“ fertiggestellt. Dieser beherbergte als sogenanntes „Haus 5“ – mit fast 100 Patienten ständig heillos überbelegt – bis Mitte der 1980er Jahre Patienten, die straffällig wurden und als gemeingefährlich galten.
Das von Dr. med. Erhard Knauer herausgegebene Buch „Leben in Haus 5“ schildert „Die Geschichte des Bewahrungshauses in Düren“ in der Zeit von 1950 bis 1986 und begleitet die gleichnamige Ausstellung im Psychiatriegeschichtlichen Dokumentationszentrum Düren (PDZ). Der Herausgeber, von 1988 bis 2010 ärztlicher Direktor der Rheinischen Kliniken Düren (1988-2010) und Autor zahlreicher Beiträge zur Thema Psychiatrische Versorgung und Gerontopsychiatrie, ist Vorsitzender des Psychiatriegeschichtlichen Dokumentationszentrums Düren.
Entstanden ist die Veröffentlichung auf der Grundlage von Interviews, die im Frühjahr 2015 mit acht pflegerischen Mitarbeitern geführt wurden, die in der Zeit von 1950 bis 1986 im Bewahrungshaus in Düren beschäftigt waren. Die mittels Tonträger aufgenommenen Gespräche, die bis zu drei Stunden dauerten und schriftlich erfasst wurden, bildeten zugleich die Grundlage für ein Drehbuch, bei dem im Frühjahr 2016 die Zeitzeugen an authentischen Orten im Haus 5 erneut befragt und dabei von einem Filmteam begleitet wurden.
Der großformatige, mit zahlreichen zeitgenössischen Schwarzweiß- und Farbfotos illustrierte Band gliedert sich in zwei Teile, wobei den Zeitzeugen-Interviews vier Texte zur Veranschaulichung historischer und zeitgeschichtlicher Zusammenhänge vorangestellt sind. Zunächst gibt Dr. Ralf Seidel, Ärztlicher Direktor der Rheinischen Kliniken Mönchengladbach (1980-2016) und Redakteur der Zeitschrift „Sozialpsychiatrische Nachrichten“ (1980-2016), in seinem Beitrag „Aufbruch in die Moderne“ einen Überblick über die Entwicklung der Psychiatrie zwischen 1900 und 1930
(S. 10-25), bevor Thomas Hax-Schoppenhorst, Öffentlichkeits- und Integrationsbeauftragter der LVR-Klinik Düren sowie Dozent an Pflegeschulen, unter der Überschrift „Die Sicherung der Gesellschaft gegen gemeingefährliche Kranke“ die Geschichte der Forensischen Psychiatrie beleuchtet (S. 26-39). Nachdem Dr. Erhard Knauer „Das Bewahrungshaus Düren in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts“ (S. 40-55) vorgestellt hat, widmet sich Dr. Horst Wallraff, Historiker und Archivar der Stadt Düren sowie Lehrbeauftragter am Historischen Seminar II der Universität Köln, in dem Beitrag „Sicherheitsaspekte und Sensationsstreben“ dem „Haus 5“ in der Dürener Presselandschaft von der Jahrhundertwende bis heute
(S. 56-80).
Der zweite Teil des Buches dokumentiert die in elf Kapitel untergliederten Interwies der Zeitzeugen, die sich schwerpunktmäßig zu den Themen „Die Pforte“,
„Hierarchie“, „Alltag“, „Eskalation“, „Suchtpatienten“, „Schluckerzelle“, „Elektroschock“, „Bärenzelle“, „Reformdruck“, „Brand in Haus 5“ und „Frauen in Haus 5“ äußerten
(S. 81-157). Den bewegenden Berichten, die durchgehend von unwürdigen Verhältnissen und dramatischen Ereignissen erzählen, sind jeweils kurze Einführungstexte von Stefan Jünger vorangestellt. Der Krankenpfleger und Fachkrankenpfleger für psychiatrische Pflege sowie Bildungsreferent an der LVR-Akademie für seelische Gesundheit in Solingen, weist einleitend darauf hin, dass damals wie heute die Pflegenden die größte Berufsgruppe in der Dürener Klinik, sowie auch an anderen forensischen Standorten, sind. Da sie die höchste Kontaktdichte zu den Patient*innen hätten, nähmen sie eine besondere Rolle im therapeutischen Prozess ein. Wie der Autor in seinem Beitrag „Macht, Abhängigkeiten und Überlegenheit auf beiden Seiten“ schreibt, befolgte die Pflege „meist kritiklos die ärztlichen Anordnungen. Auch auf der Seite der Pflegekräfte habe sich eine straffe Hierarchie fortgesetzt, „mit der sich die Mitarbeiter untereinander aber auch gegenüber den Patienten abgrenzten“ (S. 98). In seinem „Ausblick“ weist Stefan Jünger darauf hin, dass sich durch die prägenden Veränderungen des Maßregelvollzugs auch die repressive Seite forensischer Einrichtungen reduziert und der sozial-psychiatrische Gedanke in die Köpfe der Verantwortlichen Einzug gehalten habe. Darüber hinaus seien vielfältige bauliche Veränderungen umgesetzt, interdisziplinäre Teams gegründet sowie pflegerische und therapeutische Konzepte verfolgt worden. Schließlich würden mittlerweile Unterbringungsmöglichkeiten auch außerhalb forensischer Mauern existieren, wobei die Pflege auch an diesen Stellen wichtige Positionen besetze. Wörtlich hält er sodann weiter fest: „Die Behandlung und Weiterentwicklung der anvertrauten Menschen steht heute im Mittelpunkt. Allmählich verändert die psychiatrische Pflege ihren Blickwinkel, dieser Wechsel vollzieht sich in Richtung Gesundheitsförderung bzw. Prävention und bewirkt die Erarbeitung zukunftsfähiger Pflegekonzepte. Begriffe wie Recovery und Empowerment gewinnen zunehmend an Bedeutung und eröffnen für die Patienten neue Perspektiven der Entwicklung. Diese inhaltliche Neuorientierung vollziehen Pflegekräfte durch Anpassungen in ihrer Ausbildung und aktuell sowie zukünftig durch die Akademisierung der Pflegeberufe“
(S. 156).
Ulrike Lubek, Direktorin des Landschaftsverbandes Rheinland, hat zu dem Buch ein Grußwort beigesteuert, in dem sie vor dem Vergessen der Psychiatriegeschichte mahnt, da sie uns in vielfacher Hinsicht mahne und Erreichtes verstehen und wertschätzen ließe. Schließlich seien auch die im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte in der forensischen Psychiatrie entwickelten modernen Behandlungskonzepte und deren Rahmenbedingungen auch aus den in der Geschichte gewonnenen Erfahrungen erwachsen. Sodann schreibt sie zur Bedeutung und Intention der Veröffentlichung wörtlich weiter:
„Das Bewusstsein hierüber wird in beeindruckender Weise durch die in der ‚Zeitzeugen‘-Ausstellung zu Worte kommenden Mitarbeitenden geweckt, sie sowohl die belastende, sie an Grenzen bringende Zeit in der alten Forensik als auch die Aufbruchstimmung nach dem Umzug in das forensische Dorf
[in Düren im April 1986] erlebt haben. Ihre Schilderungen sind packende und berührende Zeitzeugen-Dokumente-Erinnerungen an eine Zeit, die im Bewusstsein bleiben muss“ (S. 7).
Das Buch „Leben in Haus 5“ ist sehr zu begrüßen, steht die Geschichte des Bewahrungshauses in Düren doch – zugleich stellvertretend für vergleichbare Einrichtungen – für ein Teilstück psychiatrischer Zeitgeschichte der forensischen Pflege, die bisher noch viel zu wenig erforscht und dokumentiert ist. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass hier Pflegende selbst zu Wort kommen. Sie erzählen ihre Geschichte(n) aus einem persönlichen Blickwinkel, der subjektives Erleben und subjektive Erfahrungen umspannt. Gerade mit Blick auf die in der Vergangenheit von Krisen gekennzeichnete Geschichte der forensischen Psychiatrie kommt ihren Berichten ein hoher Stellenwert zu. In jedem Fall eröffnen sie der Leserschaft tiefe Einblicke in einen bedeutenden Teil der Psychiatriegeschichte und psychiatrischen Krankenpflege (im Rheinland), der – Gott sei Dank – längst überwunden ist.
Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling