„Wir waren wie eine große Familie.“ Die Anstalt Irsee zwischen Kriegsende und Auflösung. 

978 3 9816678 7 5Robert Domes
„Wir waren wie eine große Familie.“ Die Anstalt Irsee zwischen Kriegsende und Auflösung. 

Für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirkstags herausgegeben von Stefanie Krüger und Stefan Raueiser (Impulse, Band 13). Grizeto Verlag. Irsee 2017, 179 Seiten, broschiert, 13,80 Euro, ISBN 978-3-9816678-7-5

Im vorliegenden Buch geht es um die Anstalt Irsee, genauer gesagt um die Frage, wie sich das Leben und die Alltagsrealität für die Patientinnen und Patienten der geschlossenen Heil- und Pflegeanstalt in Irsee zwischen 1945 und der Auflösung der Einrichtung im Jahre 1972 in Erinnerungen von Zeitzeugen gestaltete. Verfasst wurde es von dem gelernten Journalisten
Robert Domes (http://www.robertdomes.com/), dessen biographischer Roman „Nebel im August. Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa“ (München 2008) das Schicksal eines jugendlichen Opfers der NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Irsee zum Thema hat. Das Werk beziehungsweise die ihm zugrunde liegende Geschichte wurde 2015 verfilmt und kam im September 2016 ins Kino. Der Film hat eine enorme Resonanz ausgelöst und schafft ein neues Bewusstsein für die vergessenen Opfer der NS-Euthanasie.

Die vom Autor nun veröffentlichte Schrift „Wir waren wie eine große Familie“ wird für das Bildungswerk des Bayerischen Bezirkstags herausgegeben von Stefanie Krüger, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Bayerischen Bezirkstags, und Dr. Stefan Raueiser, Leiter des Schwäbischen Tagungs- und Bildungszentrums Kloster Irsee und des Bildungswerks des Bayerischen Bezirkstags.

Der Bayerische Bezirkstag, ein kommunaler Spitzenverband in Bayern, der die sieben bayerischen Bezirke vertritt (vgl. www.bay-bezirke.de), unterhält mit dem Bildungswerk Irsee ein zentrales Bildungsinstitut, das Angehörigen der Verwaltungen, Krankenhäuser und ambulanten Dienste aller bayerischen Bezirke vielfältige Seminare, Workshops und Kurse der beruflichen Fort- und Weiterbildung anbietet. Darüber hinaus richtet sich das Bildungsprogramm auch an die komplementären Dienste der Psychiatrie, an niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten, an Altenhilfe- und Rehabilitationseinrichtungen sowie an somatische Krankenhäuser und Sozialstationen
(vgl. www.bildungswerk-irsee.de).

„Wir waren wie eine große Familie“ erscheint als Band 13 der vom Bildungswerk Irsee herausgegeben Schriftenreihe „Impulse“, in der unter anderem auch die Schriften von Stefan Raueiser und Wolfgang Schreiber (Hrsg.) „Psychiatrie in Bewegung: Das psychiatrische Versorgungssystem der Zukunft“ (Irsee 2011)1 sowie Magdalene Heuvelmann „‚Wer in einer Gottesferne lebt, ist im Stande, jeden Kranken wegzuräumen.‘ ‚Geistliche Quellen‘ zu den NS-Krankenmorden in der Heil- und Pflegeanstalt Irsee“ (Irsee 2013)2 erschienen.

Zu den zahlreichen Veröffentlichungen, die in vorbildlicher Weise bisher vom Schwäbischen Bildungszentrum Irsee zu ihrer Institutionengeschichte herausgegeben wurden, gehören beispielsweise auch die Bücher von Gerald Dobler „Von Irsee nach Kaufbeuren. Die Erweiterungsplanungen der Kreisirrenanstalt Irsee ab 1865 bis zum Neubau der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren 1872“ (Irsee 2013)3 und „Warum Irsee? Die Gründungsgeschichte der Kreis-Irrenanstalt Irsee vom Ende der 1820er Jahre bis zur Eröffnung 1849 und ihr Ausbau bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts“
(Irsee 2014).4

Wie war das Leben in der Heil- und Pflegeanstalt Irsee nach dem Krieg? Welche Zustände herrschten dort damals? Wie sah der Alltag in der Pflege und Betreuung der Patientinnen und Patienten aus? Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen führte Robert Domes mit ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der damaligen Zeit Interviews und Gespräche („Oral History“), die er für die vorliegende Veröffentlichung thematisch gliederte und durch die systematische Auswertung der historischen Jahresberichte der Doppelanstalt Kaufbeuren / Irsee ergänzte. Auf diese Weise kann er anschaulich zeigen, wie sich das psychiatrische Krankenhaus von einer zunächst noch reinen Verwahreinrichtung für psychisch kranke Menschen schrittweise zu einer Klinik entwickelte, an deren Ende die Notwendigkeit stand, die Psychiatrie nicht nur in Irsee auf ganz neue Grundlagen zu stellen und einer umfassenden Reform zu unterziehen. Der Autor präsentiert dabei ein differenziertes Bild des psychiatrischen wie pflegerischen Alltags vor den Reformen der Psychiatrie-Enquete (1975) und des ersten Bayerischen Psychiatrieplans, das zugleich deutlich werden lässt, welchen mühsamen und steinigen Weg die Psychiatrie auch in Irsee gegangen ist, um die Schatten einer verbrecherischen Vergangenheit aus der NS-Zeit nach und nach kleiner werden zu lassen. 

Josef Mederer, Präsident des Bayerischen Bezirkstags, hat zu dem Buch ein Geleitwort beigesteuert, in dem er zur Bedeutung und Intention der Schrift festhält: „Der neue Schriftenband aus der IMPULSE-Reihe des Bildungswerks des Bayerischen Bezirkstags beschreibt eines der wichtigsten Kapitel deutscher und auch bayerischer Nachkriegsgeschichte im Blick auf die Psychiatrie. Dabei setzt er auf ebenso behutsame wie grundlegende Weise weitere wichtige Akzente in der Auf- und Nacharbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen an psychisch kranken Menschen in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ (S. 5).

In seinem Nachwort hält Prof. Dr. Heinrich Kunze, langjähriges Vorstandsmitglied der Aktion Psychisch Kranke e.V., unter anderem fest: „Die geschilderten Erlebnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der früheren Pflegeanstalt Irsee sind besondere Dokumente aus einem dunklen Kapitel der Psychiatriegeschichte, das aber nicht der Vergessenheit überlassen werden darf, weil die Gefahr lauert, dass sich die Inhumanität jener Zeit in neuen Formen der psychiatrischen Versorgung wieder breitmachen könnte“ (S. 168).

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel, wobei den Erinnerungen der Zeitzeugen jeweils eine Einleitung vorangestellt ist, die das jeweilige Thema im zeitgenössischen Rahmen verortet. Ergänzt wird die Darstellung durch drei Exkurse zu den Themen „Personalstand und PatientInnen“, „Ärzte in der Anstalt“ und „Die Marktgemeinde Irsee und die Anstalt“ ergänzt, ebenso wie durch ein – im Hinblick auf weitere pflegehistorische Forschungsarbeiten sehr hilfreiches – Register mit kurzen biographischen Hinweisen zu den im Buch erwähnten Personen. Hier hätte man sich freilich zu den an den NS-„Euthanasie“-Verbrechen beteiligten Personen
Dr. Valentin Faltlhauser (1876-1961),5 Paul Heichele (1896-1979),6 Olga Rittler (1901-1979)7 und Mina (Philomena) Wörle (1895-1973)8 einen Hinweis auf die entsprechenden Einträge im bisher im Umfang von acht Bänden vorliegenden, von Horst-Peter Wolff (Bände 1-3) und Hubert Kolling (Bände 4-8) herausgegebenen „Biographischen Lexikon zur Pflegegeschichte“ gewünscht.

Mit dem Buch „Wir waren wie eine große Familie“ hat Robert Domes einen wichtigen Beitrag sowohl zur Psychiatrie- und Pflegegeschichte als auch zur Institutionengeschichte der Heil- und Pflegeanstalt in Irsee zwischen 1945 und 1972 geleistet, das allen an der Psychiatrie- und Pflegegeschichte Interessierten zur Lektüre empfohlen sei. Die Veröffentlichung ist umso bedeutsamer, als hier einerseits verschiedene Mitarbeiter*innen – darunter zahlreiche Krankenschwestern und Krankenpfleger – zu Wort kommen und es andererseits zum Thema noch sehr große Forschungslücken gibt.

Eine Rezension von Dr. Hubert Kolling