Zwischen Lohnarbeit und Liebesdienst. Belastungen in der Krankenpflege (Rieder, Kerstin (1999): )Juventa. Materialien, Weinheim – München. 223 Seiten, DM 36,00Rezension von: Ulrike Greb M.A., Osnabrück |
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Die Autorin: Jg. 1965, Dipl. Psych., Dr. Phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Arbeitspsychologie und Arbeitspädagogik der Technischen Universität Berlin. Die Monographie ist aus ihrer Dissertation hervorgegangen. Mit fremdem Blick... Während sich der besorgte Blick der PflegewissenschaftlerInnen auf die zunehmende Jobmentalität in der Krankenpflege richtet und man den Werteverlust mit Ethik-Seminaren, Qualitätszirkeln und dem Training von Kommunikationsfähigkeit und ›Gefühlsarbeit‹ aufzufangen hofft, sieht Kerstin Rieder das zentrale Dilemma des Pflegeberufs gerade in der Beständigkeit der christlichen Nächstenliebe. Im Ideal des aufopferungsvollen ›Liebesdienstes‹ dominiere noch immer eine »unberufliche Haltung« das pflegerische Arbeitsfeld und verursache dort eine eigentümliche Belastungsstruktur: Die spezifischen Belastungen der Krankenpflege heute resultieren aus ihrer widersprüchlichen Position zwischen ›Liebesdienst‹ und Lohnarbeit (11), lautet die zentrale These der Diplompsychologin: »Das Leitbild ›Liebesdienst‹ hebt — ausgehend vom christlichen Ideal der Nächstenliebe oder Vorstellungen zu spezifisch weiblichen Fähigkeiten — die Sorge nicht nur für das körperliche, sondern auch für das individuelle seelische Wohl der Patienten hervor. Für die als Lohnarbeit organisierte Krankenpflege ist hingegen ein oftmals stark arbeitsteiliges Vorgehen bestimmend und die Wirtschaftlichkeit von zentraler Bedeutung.« (121) Um den Beweis für diese These anzutreten, entwickelt die Autorin ein aufwendiges Forschungsdesign mit einer in Erklärungsanspruch und Abstraktionsgrad stark variierenden Kombination unterschiedlicher theoretischer Grundlagen und Analyseinstrumente, das hier nur in seinen Hauptkomponenten vorgestellt werden kann. Untersucht werden nicht allgemeine Merkmale der Arbeit in der Krankenpflege, sondern, ausgehend von ihrer Geschichte, die Krankenpflege im Feld gegenwärtiger Diskurse und ihrer klinischen Praxis. (15) Im Zentrum des Interesses stehen bedingungsbezogene, subjektive und, an deren Schnittstelle, individuelle Belastungen: 1. Eine Bedingungsanalyse auf der Basis der Handlungsregulationstheorie, deren Gegenstand die psychischen Prozesse der Formung und Lenkung von Handlungen sind. Dazu wird die gesellschaftliche Organisation der Krankenpflege aus ihren religiösen und frühbürgerlichen Wurzeln historisch entwickelt, um ihre heutigen Formen der Arbeitsteilung zunächst mit Volperts Konzept der prinzipiellen und spezifischen Partialisierung zu konfrontieren. Das Arbeitshandeln im Krankenhaus, so schließt Rieder aus dem Vorherrschen der Funktionspflege, sei als Folge der kapitalistischen Produktionsweise für abhängig Beschäftigte spezifisch partialisiert; d.h. hierarchisch organisiert bei geringem Entscheidungsspielraum im pflegerischen Handeln, das weitgehend durch Ärzte, die Verwaltung und die pflegerische Leitung vorgegeben sei. (41) Mit dem ›Fünf-Ebenen-Modell der Handlungsregulation‹ von Oesterreich (49) zieht Rieder ein theoretisches Konzept heran, das die differenzierte Kennzeichnung von Anforderungen und Belastungen zuläßt. Danach bringen größere Entscheidungsspielräume der Pflegenden und eine aufgabenbezogene Kommunikation Anforderungen mit sich, die positiv zu bewerten sind. Als belastend dagegen werden alle die Handlungsregulation behindernden Faktoren verstanden. In Verbindung mit der Streßtheorie von Lazarus und einer kritischen Würdi gung der Burnout-Konzepte analysiert die Autorin schließlich Regulationsbehinderungen nach dem Belastungskonzept von Leitner u.a. (51 ff. und Abb. 53). Ausgehend von der Besonderheit, daß Krankenpflege die ›Kommunikation mit dem Nutzer der Arbeit‹ erforderlich macht — die Autorin spricht deshalb auch von »dialogischer Dienstleistungsarbeit« (74 ff.) —, erweitert Rieder die Gruppe der Regulationshindernisse um drei Kategorien für eine theoretisch begründete Kennzeichnung spezifischer bedingungsbezogener Belastungen im Umgang mit verwirrten Patienten (82, Abb. 89). Diese neuen Kategorien beziehen sich auf Erschwerungen durch a)geringe Nutzerkomopetenz, b) divergierende Zielstellungen, c) Vorgabe unrealistischer Zielstellungen. 2. Eine Diskursanalyse auf der Basis von Foucaults Konzept der Subjektivierung (91 ff.): Die subjektivierende Macht wissenschaftlicher Diskurse, die aus Individuen Subjekte werden läßt (96), gewinnt ihren Einfluß nicht durch Repressionen, sondern über positive Mechanismen (z.B. Anreize). Über die Inhalte identitätsstiftender Diskurse in Verbindung mit einer unzureichenden Arbeitsorganisation kann sie deshalb prinzipiell zu einer ökonomischen Ausbeutung der Krankenpflege beitragen (129). Mit der Analyse von identitätssichernden Leitbildern der Krankenpflege versucht die Psychologin jene individuellen Belastungen zu präzisieren, die zwischen bedingungsbezogenen und subjektiven Belastungen angesiedelt sind. 3. Eine empirischen Untersuchung, bestehend aus sechs qualitativen, problemzentriertenInterviews nach Witzel (80-170 Min.) zur Überprüfung, Veranschaulichung und Präzisierung der theoretischen Überlegungen. Die befragten Krankenschwestern sind im Alter von 22 bis 42 Jahren, mit einer Berufserfahrung zwischen 41/2 Monaten und 22 Jahren, und kommen aus verschiedenen klinischen Bereichen (Urologie, OP, Intensiv, Springer-Pool, Neurologie, Psychiatrie). Die Auswertung der Daten erfolgt nach dem zirkulären Dekonstruieren (Jaeggi/Faas), dessen Grundgedanke darin besteht »sich in ›kreativen Gedankenschleifen [...] intuitions- und theoriegeleitet‹ um den Interviewtext herum zu bewegen«. (128 ff.) Diese Vielfalt der Ansätze erschwert zwar die Lektüre und macht es dem Leser, der sich in immer neuen und interessanten Detailstudien festliest, sicher nicht leicht, den zentralen Widerspruch im Auge zu behalten. Doch die Gestaltung der neun Kapitel mit ihren hilfreichen Einleitungen, Zwischenzusammenfassungen und zahlreichen Querverweisen bietet eine sehr gute Orientierungshilfe. Zudem macht die klare Erläuterung der Konzepte und deren Terminologie die Studie auch für Nicht-Psychologen zugänglich, so daß einer breiteren Rezeption im Bereich der Pflegeforschung nichts im Wege steht. Und gewiß liegt das Verdienst dieser Arbeit für die Pflegewissenschaft in der Sichtung und Bereitstellung eines speziell für die Pflege als »dialogischer Dienstleistungsarbeit« zusammengestellten Instrumentariums zur Belastungs- und Arbeitsanalyse. So groß allerdings der Gewinn im Methodischen ist — vor allem für die Forschung im Pflegemanagement —, inhaltlich bleiben die Resultate angesichts des mittlerweile auch in Deutschland sehr ausdifferenzierten pflegewissenschaftlichen Diskurses leider unzureichend: Der die Ausgangsthese bestätigende Befund beruht überwiegend auf den Voraussetzungen einer mehrheitlich praktizierten Funktionspflege (Taylorisierung) und einer bruchlosen Überlieferung christlicher und frühbürgerlich- weiblicher Normen und Wertvorstellungen. Diese Prämissen konkretisieren sich in der Rekonstruktion des Zusammenspiels von Arbeitsbedingungen und beruflicher Identität der Beschäftigten (Kap.7 und 8) und deshalb besonders sinnfällig in den Analogie-›Schlüssen‹ der Interviewauswertung. In ihrer Beschreibung der »gegenwärtigen Rahmenbedingungen« (197) berücksichtigt die Autorin weder die Folgen der Gesundheitsstrukturreform, die Einführung der Pflegeversicherung, Budgetierungs- und Controllingverfahren, noch die seit langem bekannten Bezugspflegesysteme, Bereichs- und Zimmerpflege, neue Arbeitszeitmodelle oder den Einsatz von Stationsassistenten für patientenferne Tätigkeiten. Hier bleibt, wie auch in der Recherche neuerer Fachliteratur, die das gesuchte »gesellschaftliche Leitbild des ›Liebesdienstes‹« transportiert, der pflegewissenschaftliche Diskurs der letzten 15 Jahre völlig ausgeblendet. Obwohl die Machtwirkung aktueller Diskurse (Foucault) veranschaulicht werden soll, greift Rieder auf den Leitfaden von Juchli (1992), ›Sein und Handeln‹ (110) und das 20 Jahre alte Rocombüchlein: ›Ihr Einsatz: mehr als Pflegen‹ (112) zurück. Diese beiden »neueren Werke«, so die Autorin, seien für die berufliche Identität von Krankenpflegekräften von besonderer Bedeutung (114, 121, 142). Tatsächlich sind sie im Kontext der aktuellen Curricula für die Pflegeausbildung ganz ohne Belang. Juchlis Lehrbuch findet zwar weite Verbreitung, doch in der Regel wird die patientenorientierte Pflege nach dem Konzept der ATLs ganz unabhängig von seiner metaphysischen Umrahmung gelehrt. Diese Fehleinschätzungen des Forschungsfeldes wirken, angesichts der sonst hochaktuellen Quellenlage, ebenso befremdlich wie die Interviewauswertung. Hier wäre in jedem Falle die Wiedergabe längerer Interviewpassagen in einem Anhang wünschenswert gewesen. Für den Leser bleiben die Auswahlzitate ohne Beweiskraft, solange ihr Stellenwert innerhalb der übrigen Aussagen nicht nachvollziehbar ist. Doch auch unabhängig davon sind die Analogie-›Schlüsse‹ im Verfahren des zirkulären Dekonstruierens nicht eben stichhaltig. Ein Beispiel: Wenn Julia (40, 20 Jahre Berufserfahrung, Intensivstation) äußert, daß die Krankenpflege in der Öffentlichkeit mit niederen Arbeiten ›noch weniger als Putzfrau‹ identifiziert wird, assoziiert die Autorin: niedere Arbeit — ›diakonia‹ — Diakonie — Julias berufliches Ideal geht auf die christliche Tradition des ›rettendes Dienens‹ zurück (159). Einige Seiten später ist es dann bereits Julia selbst, die ihre Arbeit ›in Anlehnung an die christliche Diakonie schildert‹ (191). Oder: Im Hinblick auf ihre häufige Konfrontation mit dem Sterben von Patienten bekennt Julia: »ich weiß, ich bin es nicht, aber ich halte mich doch irgendwie für unverwundbar letztendlich [...] das ist ein Selbsterhaltungstrieb «. Rieder assoziiert: Unverwundbarkeit — Achilleus: Helden erscheinen oftmals unverwundbar — in Julias beruflichem Selbstverständnis klingt das Bild einer »Heldin« in der Arbeit an — diesem Ideal der heldenhaften Krankenschwester entspricht die Wahl ihres Arbeitsplatzes: »in der Intensivpflege kann eher als in anderen Bereichen durch hohen persönlichen Einsatz ein direkter Beitrag zur Rettung des Lebens der Patienten geleistet werden.« (159 f.) In den folgenden Zusammenfassungen sind dann all diese intuitiven Deutungen bereits in Julias Selbstbild festgeschrieben. Die Aufopferung wird operationalisiert in der Mehrarbeit, die Schwestern freiwillig leisten. Sie leisten diese Mehrarbeit als ›Liebesdienst‹, denn das Konzept der Nächstenliebe beinhaltet mit dem Opfer für Gott, ebenso wie der weibliche Liebesdienst, eine moralische Erhöhung. »Reinheit und moralische Erhöhung sind somit gleichsam der Lohn für den Selbstverzicht.« (182) In Julias Beispiel heißt das: Sie macht freiwillig Überstunden wenn sie zum Zeitpunkt ihres regulären Feierabends eine schwer unterbrechbare Tätigkeit durchführt. »Hierzu gehört die Aufnahme eines neuen Patienten oder die Betreuung eines Patienten in einer kritischen Situation (z.B. wenn akute Blutungen auftreten)« (187). »In solchen Fällen«, meint Kerstin Rieder, »wäre es prinzipiell möglich, dennoch Feierabend zu machen — dies wird im Kollegenkreis, je nach Situation, teilweise praktiziert.« (ebd.) In einer Zusammenschau aller Aspekte entsteht der Eindruck, daß Kerstin Rieder in gewisser Weise das Opfer ihres komplexen Designs geworden ist. Will man einen zentralen Widerspruch im Pflegeberuf auf hohem Abstraktionsniveau nachweisen — beispielsweise mit dem Konzept der prinzipiellen Partialisierung (Volpert) und einer Diskursanalyse im Rahmen der Subjektivierungstheorie (Foucault) —, so ist es durchaus geboten, von der Krankenpflege zu sprechen. Sollen jedoch Belastungskonzepte und arbeitsanalytische Verfahren konkretisiert und am Einzelfall geprüft werden, dann muß der Differnzierungsgrad des Berufsfeldes eine stärkere Berücksichtigung finden. Das erfordert mithin eine gewisse Feldkompetenz, falls es nicht nur darum gehen soll, psychologische Verfahrensweisen auf ihre Tauglichkeit in einer anderen Disziplin zu prüfen. Man muß zudem vermuten, daß hier die theoretischen Konzepte von Volpert und Foucault mit den Detailstudien nicht hinreichend vermittelt wurden, so daß ein zentraler Gedanke nicht zu Ende gedacht werden konnte. Rieders ausdrückliche Absicht war es, den Widerspruch zwischen traditionellem ›Liebesdienst‹ und moderner Erwerbstätigkeit zu zeigen. Sollte auf dem Markt, auf dem Arbeit gegen Lohn getauscht wird, die ›Liebestätigkeit‹ eine wettbewerbsfähige Komponente der Krankenpflege verkörpern, dann wäre ihr Widerspruch zur Lohnarbeit in der Warenförmigkeit der Pflege bereits aufgehoben. Das schließt eine Zerreißprobe zwischen guter Pflege und rationellen wirtschaftlichen Arbeitsmethoden jedoch keineswegs aus.